Begriffe, Begriffe, Begriffe
Warum es wichtig ist, seine wissenschaftlichen Vokabeln zu kennen – und wie wir unsere Begrifflichkeiten ausarbeiten
Inzwischen sind die Teilprojekte von MobileInclusion aus den Startlöchern gekommen. Christoph Aberle und Jule Lietzau arbeiten an der TU Hamburg an einer räumlichen Analyse der Städte Hamburg und Berlin, um mobilitätsbezogene Ausgrenzung in einer Karte der „Mobilitätsarmut“ darzustellen. An der TU Berlin bereiten wir indes die qualitativen Interviews vor, die wir mit Bewohner_innen ausgesuchter Quartiere führen werden.
Unsere forscherische Betriebsamkeit geschieht nicht im luftleeren Raum: Seit Januar haben wir mehr als 250 Fachbücher, Zeitschriften und Onlinequellen gesichtet. Darüber hinaus haben wir Interviews mit neun Experten und Expertinnen (siehe Tabelle) geführt, um einen fundierten Überblick über den Stand der Forschung zu bekommen. Dabei spielt eine Verständigung über die Begriffe Mobilität, Exklusion, mobilitätsbezogene Exklusion eine gewichtige Rolle. Diese Verständigung werden wir im Verlaufe des Projekts weiter vorantreiben.
Geballtes Wissen der Mobilitäts- und Exklusionsforschung: Neun Expert_innen, die wir befragt haben
Expertin/Experte (Link zum Forschungsprofil) | Institution |
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Bartelheimer, Peter, Dr. Phil. | Teilhabeforscher am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität |
Becker, Udo, Prof. Dr.-Ing. | Professor für Verkehrsökologie an der TU Dresden |
Böhme, Christa, Dipl.-Ing. | Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Urbanistik |
Flade, Antje, Dr. | Mobilitätspsychologin / AWMF, Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung |
Hornberg, Claudia, Prof. Dr. | Professorin für Gesundheitswissenschaften, Schwerpunkt Umwelt und Gesundheit |
Manderscheid, Katharina, Prof. Dr. | Professorin für Soziologie, insbesondere Lebensführung und Nachhaltigkeit, an der Universität Hamburg |
Scheiner, Joachim, Prof. Dr. | Professor für Mobilitätsforschung an der TU Dortmund |
Spellerberg, Anette, Prof. Dr. | Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie an der TU Kaiserslautern |
Wilke, Georg | Projektleiter Zukünftige Energie- und Mobilitätsstrukturen am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie |
Wissenschaftliche Begriffe leben von der Diskussion
Dass der Verständigungsprozess über grundsätzliche Begrifflichkeiten der Mobilitätsforschung Zeit braucht, ist auch eine Erfahrung des Fachgebiets integrierte Verkehrsplanung der TU Berlin. Das Fachgebiet hatte vor fünf Jahren erstmals den kleinen Begriffskanon zur Mobilitätsforschung herausgebracht und damit ein Zwischenergebnis des eigenen verkehrswissenschaftlichen Selbstverständnisses zur Diskussion gestellt. In den letzten Jahren konnte das theoretische Begriffsverständnis durch die Anwendung in der praktischen Forschung weiter geschärft werden.
Die im April 2018 veröffentlichte Neuauflage des Kleinen Begriffskanons1 hat das konzeptionelle Verständnis integrierter Verkehrsplanung weiter präzisiert und den Stellenwert sowie die Aufgabe der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung im Rahmen eines integrierten Planungsansatzes definiert. Die Weiterentwicklung des (jetzt gar nicht mehr so kleinen) Begriffskanons ist als Werkzeug der Selbstverständigung zu verstehen, das zur kritischen Diskussion über zentrale Begrifflichkeiten anregt.
Kleiner Begriffskanon: Ein Vokabelheft der Mobilitätsforschung
In der Veröffentlichung werden Definitionen zentraler mobilitätswissenschaftlicher Begriffe aus Sicht einer integrierten Verkehrsplanung vorgestellt und kategorisiert. Für jeden Begriff erfolgt eine Einordnung in den wissenschaftlichen Kontext, gefolgt von einer detaillierten Herleitung der Begriffsdefinition sowie diverser Anwendungsbeispiele für die Praxis. Damit erfüllt der Begriffskanon die Funktion eines Vokabelhefts: Er hilft Wissenschaftler_innen unterschiedlicher Disziplinen, sich in einer Sprache auszutauschen.
„Mobilität“ beispielsweise wird von den Autor_innen als Grad der gesellschaftlichen Teilhabe eines Menschen aufgefasst, die durch den Möglichkeitsraum zur individuellen Bedürfnisbefriedigung sowie zur Erfüllung objektiver Anforderungen bestimmt wird. In der Konsequenz werden beispielsweise subjektive Wahrnehmungen und individuelle Sichtweisen in der Betrachtung von Mobilität und Verkehr einbezogen.
„Mobilitätsarmut“ als Einschränkung des individuellen Möglichkeitsraums
Im Kontext unseres Projekts MobileInclusion ist die begriffliche Fassung des Begriffs „Mobilitätsarmut“ besonders interessant: Der Begriffskanon versteht darunter Einschränkungen des Möglichkeitsraums für Ortsveränderungen von Personen, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben einschränken.
Zentral für die Betrachtung von „Mobilitätsarmut“ bzw. mobilitätsbezogener Exklusion ist die Verknüpfung der Mobilitäts- und Exklusionsforschung. Aufgrund der Mehrdimensionalität der beiden analytischen Kategorien Mobilität und Exklusion kann das Phänomen nicht auf eine Ursachenebene reduziert werden. Oder, anders ausgedrückt: „Mobilitätsarmut“ ist nicht nur eine Frage des Geldes. Sie lässt sich genauso am Wohnort, am Bildungsstand oder am Wissen um den Busfahrplan begreifen.
Wordcloud Begriffskanon
Der Kleine Begriffskanon bildet eine empfehlenswerte Lektüre, um sich einen Überblick über zentrale Begriffe der Mobilitätsforschung zu verschaffen. Im Hinblick auf die „Mobilitätsarmut“ arbeiten wir daran, noch in diesem Jahr auf unserer Webseite eine Übersicht ausgewählter Literatur zur Verfügung zu stellen. Dies dient nicht nur dazu, die Exklusion in Berlin und Hamburg zu beschreiben, sondern trägt zur Schärfung der wissenschaftlichen Begriffe bei.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin. Bearbeiter des Projekts MobileInclusion. Leidenschaftlicher Wanderer.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung. Entwicklung von Strategien und Maßnahmen.
- Oliver Schwedes et al., April 2018: Neuauflage des Kleinen Begriffskanons ↵