Unterwegs mit dem “Hartz IV”-Budget

Die Mobilität unserer Befragten im Vergleich zu nationalen Verkehrserhebungen

Einkommensarme Menschen bewegen sich anders durch die Stadt als Menschen mit höherem Einkommen: Sie legen kürzere Strecken zurück, fahren häufiger mit dem ÖPNV und besitzen seltener ein Auto.1 Für unsere Studie haben wir 40 Personen mit Wegetagebüchern ausgestattet und anschließend zu ihrem Mobilitätsalltag befragt. Die TUHH-Studentin Franziska Havemann hat die Wegetagebücher in Bezug auf Wegelänge und Unterwegszeit ausgewertet. Das Ergebnis – eine sehr gute Studienarbeit im Bachelor Logistik und Mobilität – veröffentlichen wir hier in Auszügen als Gastbeitrag.

Grundsätzlich unterscheiden wir beim Thema Mobilität zwischen der realisierten Bewegung und der vorstellbaren Bewegung.2 Da nicht jeder Wegewunsch in die Tat umgesetzt wird, handelt es sich bei der realisierten Bewegung nur um eine Teilmenge der vorstellbaren Ortsveränderung.3 Der große Vorteil: Die realisierte Bewegung kann gemessen und in Form von Mobilitätskennzahlen dargestellt und ausgewertet werden.
Um dagegen die vorstellbare Ortsveränderung einer Person zu untersuchen, werden ihre inneren Prozesse und ihre Wahrnehmung ihrer Alltagsmobilität erforscht.4 Diese lassen sich nicht direkt beobachten. Um solche Informationen zu erheben, eignen sich qualitative Interviews. Das Ziel der Interviews ist es, persönliche Erlebnisse zu reflektieren und auf Unbewusstes zurückzugreifen, um die Mobilitätskennzahlen besser einordnen zu können und Mobilität zu verstehen.5

Alltagsmobilität in Deutschland – gemessen von MiD und MOP

Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) gibt in regelmäßigen Abständen Studien in Auftrag, in denen das Verkehrsverhalten der Deutschen umfassend untersucht wird. Zwei dieser Erhebungen widmen sich dem alltäglichen Mobilitätsverhalten. Dabei handelt es sich zum einen um das ‚Mobilitätspanel‘ (MOP) und zum anderen um die ‚Mobilität in Deutschland‘ (MiD). Die beiden Erhebungen ergänzen sich: Das MOP als Längsschnittstudie liefert regelmäßige Daten, um Trends und Veränderungen zu erkennen. Die MiD hat als Querschnittstudie eine größere Stichprobe. Damit lassen sich die Mobilitätskennzahlen der deutschen Bevölkerung präzise erfassen. Auf Grundlage dieser Zahlen werden kommende Bedarfe ans Verkehrsangebot ermittelt und verkehrspolitische Entscheidungen getroffen.6

Querschnitt vs. Längsschnitt

Während die Teilnehmenden einer Querschnittstudie einmalig an einer Umfrage teilnehmen, werden die Teilnehmenden einer Längsschnittstudie mehrmals zu verschiedenen Zeitpunkten befragt. Die Daten, die im Rahmen einer Querschnittstudie erhoben wurden, spiegeln nur eine Momentaufnahme wider. Mithilfe einer Längsschnittstudie ist es möglich, unterschiedliche zeitliche Entwicklungen zu beobachten.7

Im Rahmen meiner Bachelorarbeit habe ich die Wegetagebücher aus dem Projekt MobileInclusion quantitativ ausgewertet. Wir hatten 40 Proband*innen gebeten, für eine Woche Protokoll über ihre Wege zu führen. Das Ergebnis: Informationen über 436 komplette Wege von 19 Personen. Das Ziel war es, aus diesen Wegen Kennwerte zu berechnen, die sich mit dem MOP und der MiD vergleichen lassen.
Der Datensatz des MOP 2017/2018 bezieht sich auf 573 Personen aus deutschen Metropolen.8 Die Stichprobe der MiD beschreibt Mobilitätsdaten von mehr als 13 800 Befragten in ganz Deutschland.

Wo stehen unsere Befragten im Vergleich zu MOP und MiD?

Im Rahmen des Forschungsprojektes MobileInclusion wurde darauf geachtet, eine kleine, dennoch gezielt ausgewählte Bruttostichprobe zu erheben, die sich auf sechs Untersuchungsgebiete in Berlin und Hamburg verteilt. Befragt wurden Personen, die „Hartz IV“ beziehen und in einem Stadtteil mit hoher Armutsquote leben. Im Folgenden vergleiche ich die Methodik und die Ergebnisse von MOP und MiD mit der Vorgehensweise und den Mobilitätskennzahlen von MobileInclusion.

Wegehäufigkeit, Unterwegszeit und Mobilitätsstreckenbudget der Alltagsmobilität im Vergleich
(Quelle: Eigene Darstellung)
(Stichprobengröße: nMOP=573, nMiD=13 800, nMobileInclusion=19)

Zunächst ist zu berichten, dass die im Rahmen des MOP ermittelte Wegehäufigkeit bei 3,18 Wegen pro Tag liegt und somit um 0,1 Wege pro Tag geringer ist als die aus den Wegetagebüchern von MobileInclusion resultierende Wegehäufigkeit. Aus dem Datensatz der MiD ergibt sich mit 0,69 Wege weniger pro Tag eine vergleichsweise niedrigere Wegehäufigkeit von 2,59 Wegen pro Tag.

Die Einkommensarmen der Nettostichprobe des Projektes MobileInclusion legen im Schnitt täglich 10,91 km in einer Zeit von 80,95 min zurück. Diese Werte liegen deutlich unter denen der MiD und des MOP. Das Diagramm oben zeigt, dass die Teilnehmer*innen des MOP täglich in etwa das Dreifache der Distanz überwinden. Ihre durchschnittliche Unterwegszeit ist dabei um 4,65 Minuten höher. Auch das durchschnittliche Mobilitätsstreckenbudget der MiD ist mit 24,3 km zwar geringer als das des MOP, aber größer als dass der Nettostichprobe des Projektes MobileInclusion. Allerdings liegt die durchschnittliche Unterwegszeit der Einkommensarmen der MiD9 um 4,85 min unter der der Nettostichprobe von MobileInclusion.

Der Vergleich der Mobilitätskennzahlen zeigt, dass die Alltagsmobilität der von MobileInclusion befragten Personen von der Alltagsmobilität der Erhebungsteilnehmer*innen des MOP und der MiD abweicht. Die Wegehäufigkeit ist dabei nicht betroffen: Einkommensarme sind nicht zwangsläufig arbeitslos und legen in etwa die gleiche Anzahl an Wegen pro Tag zurück wie Personen mit höherem Einkommen. Allerdings ist die Wahl ihrer Verkehrsmittel aufgrund ihres Budgets auf kostengünstige Alternativen begrenzt, sodass sie bspw. eher den Nahverkehr nutzen oder zu Fuß unterwegs sind als mit dem Auto. Diese Einschränkung in ihren Möglichkeiten hat möglicherweise einen Einfluss auf das Verhältnis zwischen ihrer Tagesstrecke und ihrer Unterwegszeit, das sowohl bei der MiD als auch im Datensatz von MobileInclusion auffällt.

Gegenüberstellung der Modal Splits der Alltagsmobilität
(Quelle: Eigene Darstellung)
(Stichprobengröße: nMOP=573, nMiD=13 800, nMobileInclusion=19)

Eine kleine Stichprobe schränkt die Aussage ein

Zwar ist es möglich, aus den drei Erhebungen die gleichen Mobilitätskennzahlen zu ermitteln, da sie alle ähnliche Fragen gestellt haben. Zudem orientieren sich die Kontrolle und die Aufbereitung der Wegetagebücher von MobileInclusion an der Methodik des MOP und der MiD.

Allerdings kamen viele der 40 Datensätze für den Vergleich in dieser Arbeit nicht infrage, beispielsweise weil das Tagebuch nicht zu Ende geführt worden war. So umfasst die Nettostichprobe mit 19 Personen deutlich weniger Befragte als die Stichproben der MiD und des MOP. Darüber hinaus ist es das Ziel der MiD und des MOP, repräsentative Mobilitätskennzahlen zu ermitteln. Die im Projekt MobileInclusion erhobenen Daten sollten hingegen eine Grundlage für die qualitativen Interviews darstellen. Dabei stand die subjektive Wahrnehmung der Befragten im Vordergrund. Da die Wege nicht exakt erfasst wurden und nur eine kleine Zahl an Tagebüchern vollständig war, sind die Kennzahlen wahrscheinlich verzerrt. Dementsprechend gelten die Ergebnisse nicht als repräsentativ – wohl aber als repräsentierend für den Alltag einkommensarmer Menschen10.

MOP und MiD beschreiben den Verkehr der deutschen Bevölkerung – aber Mobilität ist mehr als Verkehr

Die Datenlage von MobileInclusion unterscheidet sich also grundlegend von den Konzepten der MiD und des MOP. Während die zwei Erhebungen des BMVI das Ziel repräsentative und aktuelle Erkenntnisse über die Alltagsmobilität der deutschen Bevölkerung darstellen, dienten die Wegetagebücher vor allem als Einstieg für die anschließenden qualitativen Interviews – wie oben beschrieben, war genau das ihr Zweck. Die Genauigkeit und die Repräsentativität der Kennzahlen rückten bei diesem Vorhaben in den Hintergrund.

Generell konzentrieren sich die MiD und das MOP auf die realisierte Bewegung. Damit beschreiben sie allerdings nur eine Teilmenge der vorstellbaren Mobilität und geben keine Auskunft über die komplexen inneren Prozesse der vorstellbaren Bewegung. Es ist dementsprechend nicht möglich, die Alltagsmobilität verschiedener Individuen mit diesen Daten vollständig zu vergleichen. Die Kennzahlen beschreiben beispielsweise nicht, wie Einkommensarme ihre eigene Mobilität im Vergleich zu Besserverdienenden empfinden: Die gleiche Wegezahl muss nicht bedeuten, dass sich die Befragten auch als durchschnittlich mobil wahrnehmen. Um zu verstehen, inwiefern Faktoren wie Einkommen, Geschlecht oder Herkunft Einfluss auf die Mobilität haben, muss die Kennzahl aus den Wegetagebüchern mit der subjektiven Wahrnehmung der Einzelnen ergänzt werden. Die quantitativ geprägten Mobilitätserhebungen MiD und MOP bieten diese qualitative Tiefe nicht. Angebracht ist sie allemal: Damit die Verkehrspolitik die Verkehrsinfrastruktur weitsichtig konzeptionieren kann, müssen sich die Entscheidungsträger mithilfe der Ergebnisse aus der sozialwissenschaftlichen Mobilitätsforschung verstärkt an den Bedürfnissen der Bürger*innen orientieren. Dementsprechend kann der Ansatz von MobileInclusion die Erhebungskonzepte des BMVI sinnvoll ergänzen.

Geringes Einkommen – geringe Mobilität – geringe Beachtung durch Verkehrspolitik

Alles in allem unterscheiden sich die Mobilitätskennzahlen der Wegetagebücher von MobileInclusion deutlich von den Kennzahlen der anderen zwei Studien. Wie uns die Betroffenen in den Interviews vielfach berichten, hat ihr geringes Einkommen tatsächlich einen Einfluss auf ihre Verkehrsmittelwahl und ihre täglich zurückgelegte Strecke. Daraus lässt sich schließen, dass der Bedarf einkommensarmer Menschen andere Ansprüche an die Verkehrspolitik stellt, die in den großen Erhebungen untergehen und somit vernachlässigt werden.

  1. Beispielhafte Ergebnisse finden sich in der Sonderauswertung der Studie „Mobilität in Deutschland“ für Hamburg, insbesondere Folien 9, 17, 18.
  2. Hammer, Antje; Scheiner, Joachim (2006): Lebensstile, Wohnmilieus, Raum und Mobilität – Der Untersuchungsansatz von StadtLeben. In: Beckmann, Klaus J.; Hesse, Markus; Holz-Rau, Christian; Hunecke, Marcel (Hrsg.): StadtLeben – Wohnen, Mbilität und Lebensstil. S. 15-30. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 18 ff.
  3. Zierer, Maria Heide; Zierer, Klaus (2010): Zur Zukunft der Mobilität: Eine multiperspektivische Analyse des Verkehrs zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 25.
  4. Siehe Bibliothek: Schwedes, Oliver; Daubitz, Stephan; Rammert, Alexander; Sternkopf, Benjamin; Hoor; Maximilian (2018): Kleiner Begriffskanon der Mobilitätsforschung. 2. Auflage, IVP-Discussion Paper, No. 2018 (1), Technische Universität Berlin, Fachgebiet Integrierte Verkehrsplanung, Berlin. S. 10 ff.
  5. Siehe Bibliothek: Schwedes et al. 2018, S. 73 ff.
  6. BMVI (Hrsg.) (27.06.2018): Mobilitätserhebungen des BMVI im Überblick: Ein Bausteinsystem zur Erfassung des Verkehrs. (letzter Zugriff: 12.12.2020).
  7. WPGS (o. J.): Querschnittstudien und Längsschnittstudien als Forschungsansätze. (Letzter Zugriff: 10.03.2021).
  8. Ecke, Lisa; Chlond, Dr.-Ing. Bastian; Magdolen, Miriam; Eisenmann, Christine; Hilgert, Tim; Vortisch, Prof. Dr.-Ing. Peter (2019): Deutsches Mobilitätspanel (MOP) – Wissenschaftliche Begleitung und Auswertungen Bericht 2017/2018: Alltagsmobilität und Fahrleistung. Studie von Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Institut für Verkehrswesen im Auftrag des BMVI (FE-Nr. 70.938/17). Bonn, Karlsruhe. (Letzter Zugriff: 30.12.2020). S. 76.
  9. Die Einkommensarmen der MiD haben einen sehr geringen ökonomischen Status. Dieser beschreibt das Verhältnis zwischen Haushaltseinkommen und -größe. Im Falle eines sehr niedrigen ökonomischen Status stehen einem Einpersonenhaushalt unter 500 bis 900 Euro und einem Vierpersonenhaushalt mit zwei Kindern im Alter von unter 14 Jahren unter 500 bis unter 2000 Euro monatlich zur Verfügung (vgl. Nobis, Claudia; Köhler, Katja (2018): Mobilität in Deutschland – MiD Nutzerhandbuch. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des BMVI (FE-Nr. 70.904/15). Bonn, Berlin. (Letzter Zugriff: 30.12.2020). S. 18).
  10. Lamnek, Siegfried (2010): Qualitative Sozialforschung. Lehrbuch. 5. Auflage. Weinheim: Beltz PVU, S. 167ff.