Kinder, raus aus dem Alltag! Neue Mobilitätserfahrungen erweitern Möglichkeitsräume

Mobilität ist die Möglichkeit, Ortsveränderungen vorzunehmen und umfasst damit mehr als tatsächlich realisierte Ortveränderungen von A nach B. Möglichkeitsräume und damit auch Mobilität können nicht nur durch Faktoren wie Kosten oder mangelnde Verkehrsmittel begrenzt werden, sondern auch durch unsere eigenen Vorstellungen des Möglichen. Wenn gar keine oder kaum Wunschziele formuliert werden können, ist das ein Hinweis darauf, dass der individuelle Möglichkeitsraum stark eingeschränkt ist – unabhängig davon, ob es theoretisch möglich wäre, diese Ziele zu erreichen.1

Möglichkeitsräume eröffnen und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen

In unserer Forschung haben wir einkommensarme Menschen zu ihrer Mobilität befragt. Dabei spielten auch Möglichkeitsräume eine große Rolle. Einige unserer Interviewpartner*innen waren nicht in der Lage, konkrete Wunschziele zu benennen. Manche benannten ausschließlich Ziele, die sich stark an ihrem alltäglichen Aktionsraum orientierten. Ihr Aktionsraum beschränkte sich häufig auf ihr unmittelbares Wohnumfeld. Ziele, die darüber hinausgehen, blieben unvorstellbar.

Eine Folge dieser Einschränkungen des Möglichkeitsraums ist eine geringere gesellschaftliche Teilhabe. Um Teilhabechancen zu erhöhen, müssen dementsprechend Möglichkeitsräume erweitert werden. Dabei reicht es nicht, sich auf Kostenfaktoren oder Verkehrsmittelverfügbarkeiten zu beschränken, denn auch der geistige Aspekt von Mobilität, der Möglichkeitsräume beschränken kann, muss mitgedacht werden.2

Dieser begrenzte Möglichkeitsraum kann sich auch auf Kinder und Jugendliche übertragen. Ihre Mobilitätsbiografie ist stark abhängig von dem Umfeld, in dem sie sozialisiert werden. Wenn sich ihr Alltag auf ihre direkte Wohnumgebung beschränkt und diese Alltagsstruktur nie durchbrochen wird, bleiben potenzielle Wunschziele außerhalb ihres Vorstellungsvermögens.

Wie können wir Möglichkeitsräume erweitern?

Neue Mobilitätserfahrungen außerhalb der gewohnten Alltagsstrukturen können einen Beitrag dazu leisten, Möglichkeitsräume zu eröffnen. Für Kinder und Jugendliche kann dies beispielsweise in Form von Ferienreisen, Jugendcamps oder Auslandspraktika geschehen. Die gemachten Erlebnisse können ihnen neue Perspektiven aufzeigen und eine Vorstellung davon geben, welche Aktivitätsmöglichkeiten über ihren bisherigen Erfahrungsbereich hinaus bestehen. Auch das Kennenlernen fremder Orte kann ein positives Erlebnis sein und durch das Knüpfen neuer Kontakte kann sich das soziale Netzwerk erweitern.

Um auch Kindern und Jugendlichen aus finanzschwachen Familien solche Erfahrungen zu ermöglichen, müssen kostengünstige oder kostenlose Angebote geschaffen werden. Gerade für diese Zielgruppe können neue Mobilitätserfahrungen eine wertvolle Ressource sein, die ihnen in ihrem Alltag nicht ermöglicht werden.

Neue Mobilitätserfahrungen durch Auslandspraktika,
Freiwilligendienste oder Feriencamps

Eine unserer Interviewpartner*innen erzählte von einem Auslandspraktikum in Budapest. Seitdem möchte sie den gesamten Stadtraum nutzen und versucht dies zu realisieren. Durch das Praktikum hat sich ihr Möglichkeitsraum verändert. Sie ist in Berlin-Hellersdorf in einer Familie in „Hartz IV“-Bezug aufgewachsen und denkt nun darüber nach, Hellersdorf zu verlassen. Ihr großes Wunschziel ist es, nach Budapest zurückzukehren:

„Also ich will mir zum Geburtstag […] Geld schenken lassen, dann will ich über Silvester nach Budapest beispielsweise. Ja, da haben wir auch schon geguckt, da gibt es recht gute Angebote. Also 102 Euro mit Flug und Hotel, das ist in Ordnung, das kann man dann mal machen. Aber das ist halt ein großer Traum. Meine Mutter hält mich für verrückt, wo ich gesagt habe: […] Ich mache bei denen Urlaub, die können bei mir Urlaub machen. Ich meine, man ist ja deswegen nicht aus der Welt.“ (P4:106)

Der Berliner Verein, der das Praktikum ermöglicht hatte, ist KIDS & CO. Der Verein fördert Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Bildungs- und Freizeitangeboten. Das Auslandspraktikum unserer Interviewpartnerin wurde über das Programm „IdeAl für Berlin“ finanziert. Das Programm richtet sich an junge Erwachsene zwischen 18 und 35 Jahren. Die Teilnehmer*innen erhalten eine intensive Betreuung mit einer Vorbereitungsphase und einer abschließenden Nachbereitung. Dabei erhalten sie auch Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen und der Kommunikation mit Ämtern und Behörden.

Feriencamp des Projekts “Modell morgen”

Einen kürzeren Aufenthalt innerhalb Deutschlands bietet das Projekt „Modell morgen“ in Form von kostenlosen Feriencamps. Das Ziel der Feriencamps ist es, jungen Menschen bei der Berufsorientierung zu helfen, indem Berufsbilder aus verschiedenen Themenbereichen vorgestellt und mit sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Nachhaltigkeitsfragen in Verbindung gesetzt werden. Die Teilnehmer*innen sollen dabei ihre persönlichen Stärken und Talente entdecken, verschiedene Tätigkeitsfelder kennenlernen und können Kontakte zu Auszubildenden und Arbeitgeber*innen knüpfen. Eines der Themenfelder der Feriencamps 2021 ist „Städte der Zukunft“, bei dem es darum gehen soll, Städte nachhaltiger und gerechter zu gestalten.
Das Projekt wird durch das Bundesumweltministerium und den Europäischen Sozialfonds im Rahmen des ESF-Bundesprogramms „Berufsbildung für nachhaltige Entwicklung befördern. Über grüne Schlüsselkompetenzen zu klima- und ressourcenschonendem Handeln im Beruf – BBNE“ gefördert. Sie finden in Berlin statt, teilnehmen können aber Jugendliche und junge Erwachsene aus Berlin, Niedersachsen und Hamburg, die zwischen 15 und 24 Jahre alt sind.

Das Projekt “Modell morgen” bietet kostenlose Feriencamps an.

Weitere Möglichkeiten bietet das EU-Programm des Europäischen Solidaritätskorps. Teil des Programms sind Freiwilligendienste im EU-Ausland, die bis zu einem Jahr dauern können. Die Kosten für den Aufenthalt werden übernommen. Personen, die geringere Teilhabemöglichkeiten haben, etwa aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen, sollen priorisiert gefördert werden. Zudem können sie zusätzliche Unterstützung in Form von Mentoring, vorbereitenden Besuchen oder einer verkürzten Aufenthaltsdauer, die bei Interesse verlängert werden kann, erhalten.3

Eine Evaluation des Programms zeigt jedoch, dass sich nur weniger als 20% der Teilnehmer*innen als benachteiligt einordnen würden und sie größtenteils aus Familien kommen, in denen die Eltern über einen Hochschulabschluss verfügen.4

Programme gezielter ausrichten und Zielgruppen direkt ansprechen

Durch neue Mobilitätserfahrungen, sei es kurz oder lang, im Ausland oder auch innerhalb der eigenen Stadtgrenzen, können Möglichkeitsräume sichtbar werden und sich neue Perspektiven eröffnen. Ein Programm, das gezielter Jugendliche aus benachteiligten Familien anspricht, könnte mehr Teilnehmer*innen gewinnen und passender auf diese Zielgruppe zugeschnitten werden. Außerdem sollten diese Jugendliche über eine direkte Ansprache über vorhandene Möglichkeiten informiert werden, beispielsweise über Schulen oder soziale Träger.

Die Idee, durch positive Erlebnisse in einem neuen Umfeld, Perspektiven und Möglichkeitsräume zu eröffnen, ließe sich auch in andere Altersgruppen übertragen. Beispielsweise könnten Mobilitätserfahrungen im Rahmen von MAE-Maßnahmen5 organisiert werden. Positive Erfahrungen können in die eigenen sozialen Netzwerke hineingetragen werden und die Teilnehmer*innen somit als Multiplikator*innen wirken.

  1. Siehe Bibliothek: Schwedes, Oliver; Daubitz, Stephan; Rammert, Alexander; Sternkopf, Benjamin; Hoor, Maximilian (2018): Kleiner Begriffskanon der Mobilitätsforschung.
  2. Siehe Bibliothek: Schwedes, Oliver; Daubitz, Stephan; Rammert, Alexander; Sternkopf, Benjamin; Hoor, Maximilian (2018): Mobilitätsarmut. In: Kleiner Begriffskanon der Mobilitätsforschung, S. 76-80.
  3. Weitere Informationen zu den Maßnahmen finden sich unter https://www.solidaritaetskorps.de/ueber-das-programm/inklusion/.
  4. European Commission (2017): Study on the Impact of Transnational Volunteering through the European Voluntary Service. Luxemburg: Publications Office of the European Union. DOI: 10.2766/87737. S. 61.
  5. Unter MAE-Maßnahmen werden sogenannte Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung bezeichnet, die Empfänger*innen von ALG II bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützen sollen.