Lastenräder für Menschen in Armut – ungenutztes Potenzial

Wenn man ein Interview geführt hat, das Aufnahmegerät schon verpackt ist und man sich verab-schieden möchte, passiert es hin und wieder, dass einem doch noch relevante Informationen auf den Weg mitgegeben werden. Dies war auch bei einem Interview im Falkenhager Feld der Fall.

„Warum kann man eigentlich keine Lastenräder bei der Lebensmitteltafel ausleihen?“

Das Interview mit einer Frau, die regelmäßig die Ausgabestelle der Lebensmitteltafel der Evangelischen Luthergemeinde im Paul-Schneider-Haus in der Schönwalder Straße 23 nutzt, war beendet, wir standen uns gegenüber und ich war schon im Begriff zu gehen. Sie hatte unseren Mobilitätsratgeber in der Hand, blätterte ihn kurz auf und schloss ihn wieder. Unvermittelt sagte sie zu mir: „Wissen Sie, was ich nicht verstehe? Warum kann man eigentlich keine Lastenräder bei der Lebensmitteltafel ausleihen? Da würden sie doch gebraucht. Das wäre doch eine Möglichkeit“. Und schon entspann sich ein Gespräch über diesen Vorschlag.

Durch die Feldarbeit kannte ich die Situation vor der Ausgabestelle, da ich dort zu der Ausgabezeit versuchte, Menschen für unsere Befragung zu gewinnen. Der Vorschlag der Frau leuchtete mir unmittelbar ein. Ich hatte beobachten können wie unkomfortabel und mühselig die Nutzer*innen der Tafel ihre Ware transportierten. Die Interviewpartnerin gehört zu einer Gruppe, die regelmäßig Kontakt zu Mitarbeiter*innen von sozialen Trägern sucht, um Informationen oder Güter zu erhalten. Diese Gruppe ist für Interventionen oder neue Mobilitätsdienstleistungen offen, wenn sie den Mobilitätsalltag erleichtern und finanziell barrierefrei sind. Nach dem Hinweis der Frau nahmen wir das Thema “Lastenrad leihen”  in die folgenden Interviews auf, um ein Bild über das mögliche Potenzial zu gewinnen.

Unkenntnis, Ablehnung und Begeisterung:
drei typische Sichtweisen auf das Lastenrad

Im weiteren Verlauf der Interviews gab es unterschiedliche Reaktionen zu der Möglichkeit, ein Lastenrad für Einkäufe etc. zu nutzen. Abhängig vom Mobilitätstyp1 ließen sich drei Reaktionen unterscheiden:

Es liegt kein Wissen über das Verkehrsmittel Lastenrad vor:
Bei interviewten Personen, die über wenig Mobilitätskompetenzen verfügen bzw. wenig Wissen über Mobilitätsmöglichkeiten haben, musste in den Interviews die Funktionsweise und die Möglichkeiten eines Lastenrads erst erklärt werden.

MobileInclusion: Es gibt ja hier in Spandau und gerade auch im Falkenhagener Feld so ein Angebot mit kostenlosen Lastenrädern, die man sich ausleihen kann. Wäre das was für dich?

P: Kostenlose Lasten…? Ich weiß nicht, was ein Lastenrad jetzt ist.

MobileInclusion: Okay, also ein Fahrrad, wo man einen Aufbau hat, wo du Sachen reintun kannst. Wo man z. B. Lebensmitteleinkäufe transportieren kann. Also so ein Fahrrad ist das, ne?

P: Das ist aber … Das wusste ich auch noch nicht.

MobileInclusion: Wäre das ein Angebot oder würdest du so was nutzen? Oder ist das dann eher, wo du sagst: Das passt doch nicht so ganz. Was meinst du?

P: Würde auf jeden Fall mehr als nur eine Überlegung sein. Weil ich denke jetzt mal an meine Mum zum Beispiel, auch da fahre ich in der Regel mit gleich mehreren Sachen bewaffnet hin. In die Bahn kann man ein Rad ja mitnehmen. Bis zum Rathaus damit zu fahren, ist ja nun nicht das Ding. Aber insofern, ja, würde schon hier und da in Frage kommen. (P27:57)

In diesen Fällen wurden die interviewten Personen mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert. Im Idealfall gingen die Befragten, wie im vorgestellten Fall, gedanklich durch, wie so ein Angebot ihren Mobilitätsalltag verändern könnte.

Lastenräder werden für die eigene Nutzung abgelehnt:
Interviewte Personen schließen die Nutzung von Lastenrädern von vornherein aus. So wird das Lastenrad beispielsweise mit einem bestimmten Lebensstil verbunden, von dem man sich bewusst abgrenzen möchte. In einer Diskussion bei einem sozialen Träger mit einkommensarmen Bewohner*innen aus Spandau formulierten diese, dass sich ein Lastenrad nur „Besserverdienende“ und „Ökos“ leisten könnten. Das Lastenrad wird an diesem Punkt durchaus emotional aufgeladen, wobei deutlich der eigene Ausschluss wahrgenommen wird. Die Reaktion ist an dieser Stelle verständlich, jedoch nicht konstruktiv, denn eine Nutzung wird von vornherein emotional ausgeschlossen.

Als einen weiteren Ausschlussgrund für die Nutzung eines Lastenrads wird indirekt die fehlende Infrastruktur thematisiert. Jedoch wird an dieser Stelle von den Interviewten nicht eine Erweiterung bzw. Anpassung von Wegen für die Nutzung für Lastenräder gefordert, sondern gleich die Nutzung als zu beschwerlich wahrgenommen und damit als Verkehrsmittel ausgeschlossen. So wird von einem Wilhelmsburger Anwohner geschildert:

„Das Problem ist, [d]a, wo ich durch muss, ist so eine Brücke. Und da kommen Sie nicht durch mit diesem Lastenrad, weil da sind solche Begrenzungspfeiler. Da kommen Sie mit dem Fahrrad durch, mit einem Lastenrad kommen Sie da aber nicht durch. Das heißt, Sie müssen ganz rum fahren. Das wäre das Problem. Ich weiß auch gar nicht, wie teuer so ein Lastenrad ist.“ (P20:19)

Und eine Frau aus Steilshoop erzählt:

„Das ist breiter, ne? Ja, da muss man immer aufpassen wegen der Straße, wenn das zu breit ist. Also ich finde ja schon die Mütter, die mit die Kinder da in diesem Transporter mitfahren, finde ich schon echt immer gefährlich, ne?, wenn die Straßen schmal sind. Und auf dem Fußgängerweg kann man damit auch nicht fahren. Dann hat man gleich mal die Stinkefinger im Gesicht. Das ist also; finde ich ein bisschen gefährlich in Hamburg.“ (P26:17)

Lastenräder würden gerne genutzt werden:
Für diejenigen, für die Mobilität einen hohen Stellenwert in ihrem Leben einnimmt und die über hohe Mobilitätskompetenzen verfügen, stellt die Nutzung eines Lastenrades eine Option dar, die aber aufgrund der finanziellen Barriere der Anschaffung nicht realisiert werden kann. Exemplarisch sei die Begeisterung eines Anwohners von Wilhelmsburg angeführt:

„Teuer. Aber sonst, das sollte es auf jeden Fall auch geben,  finde ich gut. Ich hab sogar schon eins gesehen, da war eine Europalette hinten drauf. Also da war der Korb nicht vorne, sondern hinten, wie so ein kleiner Lastwagen. Mit Akku und Bla. Also auch mit Unterstützung, damit das nicht so schwer ist. Geil. Also ich dachte nur: Echt geil. Eine ganze Europalette.“ (P18:37)

Das Lastenrad ist somit auch für Personen interessant, die schon sehr lange in sozial prekären Armutslagen leben und Routinen entwickelt haben, die auf das Ziel des ‘Überlebens‘ ausgerichtet sind. Sie sind trotz ausgeprägter Routinen offen dafür, festgefügte Alltagsstrukturierungen zu verändern, wenn sie bei der Alltagsbewältigung nützlich sind.

Ein Mann transportiert seinen Einkauf im Gartencenter mit einem Lastenrad (Bildquelle: Todd Fahrner via flickr, CC-BY-SA-2.0)

Das Lastenrad als Angebot der Lebensmitteltafel

Das Lastenrad wird tatsächlich schon von mehreren Tafeln eingesetzt. Es wird beispielsweise in Göttingen für den Transport der Lebensmittelspenden von Einzelhändler*innen genutzt. In Wolfenbüttel kann bei der Lebensmittelausgabe und Secondhandboutique ein E-Lastenrad ausgeliehen werden, nicht nur für den Transport von Waren, sondern auch für Ausflüge mit Kindern. FlixBus und atmosfair haben seit 2016 bereits 16 Lastenräder an gemeinnützige Organisationen gespendet.

In Zeiten von Corona kommen die Lastenräder nun verstärkt auch für die Belieferung von Kund*innen zum Einsatz. Da die Tafeln temporär schließen mussten, ist es notwendig, auf andere Weise die Versorgung der Menschen aufrecht zu erhalten. Hierfür wurden von den Trägern die unterschiedlichsten Formen des Sponsorings gewonnen. Im niedersächsischen Bremervörde etwa konnten 9 000 Euro von der Stiftung Aktion Mensch für die Finanzierung eines Lastenrads eingeworben werden.

Das Lastenrad wird also gezielt eingesetzt, um die Situation einkommensarmer Menschen zu verbessern. Das zeigt: Der Einsatz von Lastenrädern stellt eine Option dar, um auch andere Bevölkerungsgruppen zu gewinnen als die zugeschriebene ökologisch orientierte Mittelschicht.

Wie lässt sich das Lastenrad für einkommensarme Menschen nutzen?
Durch Ausprobieren!

Die wenigen empirischen Untersuchungen zum Lastenrad weisen darauf hin, dass es vor allem noch von Menschen genutzt wird, die sich das finanziell auch leisten können.2 Der erste Schritt, um das zu ändern, beginnt bei der Standortwahl: Geeignet ist ein Standort, den einkommensarme Menschen aufsuchen, beispielsweise ein Sozialcafé oder ein Stadtteilzentrum. Damit ist die grundsätzliche Erreichbarkeit gegeben, allerdings braucht es mehr: Unser eigenes empirisches Material gibt Hinweise für die gezielte Ansprache durch eine individuelle Mobilitätsberatung. Diese muss zunächst schlicht informieren und vor allem Möglichkeiten des Ausprobierens schaffen, damit praktische Erfahrungen gesammelt werden können. Darüber hinaus braucht es eine Fahrradinfrastruktur, die eine komfortable Nutzung eines Lastenrads ermöglicht.

  1. Wir haben sieben Typen von Armuts-Mobilität identifiziert. Lesen Sie mehr in unserem Faktenblatt.
  2. Boterman, W. (2020): Carrying class and gender: Cargo bikes as symbolic markers of egalitarian gender roles of urban middle classes in Dutch inner cities, Social and Cultural Geography, 21:2, 245-264, DOI: 10.1080/14649365.2018.1489975.
    Riggs, W. (2016): Cargo bikes as a growth area for bicycle vs. auto trips: Exploring the potential for mode substitution behavior, Transportation Research Part F: Traffic Psychology and Behaviour, 43, 48-55, https://doi.org/10.1016/j.trf.2016.09.017.
    Riggs, W. & Schwartz, J. (2018): The impact of cargo bikes on the travel patterns of women, Urban, Planning and Transport Research, 6:1, 95-110, DOI: 10.1080/21650020.2018.1553628.
    Becker, S. & Rudolf, C. (2018): The Status Quo of cargo-bikesharing in Germany, Austria and Switzerland, Framing the Third Cycling Century: Bridging the Gap between Research and Practice, 168-180.
    Hess, A. K., & Schubert, I. (2019): Functional perceptions, barriers, and demographics concerning e-cargo bike sharing in Switzerland. Transportation Research Part D: Transport and Environment, 71, 153-168, https://doi.org/10.1016/j.trd.2018.12.013.