Ein Interview strukturieren
Werkstattbericht: Wie wir unsere Interviews mittels Leitfaden und Kurzfragebogen strukturierten
Für die qualitativen Interviews, die im Rahmen des Forschungsprojekts MobileInclusion durchgeführt wurden, entwickelten wir einen Leitfaden, der die Grundlage für die Erhebung bildete. Nach jedem Interview erhoben wir mittels eines Kurzfragebogens weitere Daten.
Die Entwicklung des Leitfadens orientierte sich an den methodischen Vorschlägen von Cornelia Helfferich1. Den Leitfaden erstellten wir in Form einer Mindmap und konnten diesen somit während der Interviews jederzeit einsehen und nutzen.
Ausschnitt der Mindmap, die als Interview-Leitfaden diente
In den qualitativen Interviews sollten fünf Themenblöcke angesprochen werden.
1. Aktivitäten/Mobilität: Dieser Themenkomplex zielte darauf ab, die tatsächlichen Ortsveränderungen nachzuvollziehen. Ausgangspunkt bildeten dabei die Aufzeichnungen des Wegetagebuches (weitere Informationen zum Wegetagebuch finden Sie in unserem Blogbeitrag). Beispielhaft sollte ein Tag beschrieben werden. Mit der Gesprächsaufforderung: “Beschreiben Sie doch mal genau, was sie an diesem Tag erlebt haben.“ sollte ein exemplarischer Tagesablauf nachvollzogen werden und das Interview starten. Ziel war es, die interviewte Person über ihren Alltag erzählen zu lassen. Nach diesem Gesprächseinstieg schlossen sich Detaillierungs- und Steuerungsfragen an. Sie bezogen sich auf Besonderheiten bzw. auf die Alltäglichkeit der gemachten Wege.
Im weiteren Verlauf des Interviews haben wir wahrgenommene Schwierigkeiten in Bezug auf die eigene Mobilität angesprochen. Hierzu zählten in erster Linie Erlebnisse mit bestimmten Verkehrsmitteln. Mit der Thematisierung sollten mögliche Barrieren erschlossen werden, die sich nicht unbedingt aus der Armutssituation ableiten lassen, sondern beispielsweise durch persönliche Ängste entstehen. Zumeist konzentrierte sich dieser Gesprächsabschnitt auf Erfahrungen mit der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Wenn Wege nicht gemacht werden konnten und diese im Wegetagebuch verzeichnet waren, forderten wir die interviewten Personen auf, diese Situationen genauer zu beschreiben. Dabei gingen wir darauf ein, aus welchen Gründen diese Wege nicht realisiert werden konnten und wie dies erlebt wurde. Hier sollten Gefühle und Gedanken zu nicht gemachten Wegen erzählt werden. Außergewöhnliche Reisen außerhalb der Stadt erfragten wir zusätzlich. Hier wurden die Organisation und die Planung solcher Fahrten angesprochen. In diesem Themenkomplex wurde außerdem thematisiert, wie Mobilitätsportale bzw. Hilfsmittel (Smartphones) für die Planung von Fahrten genutzt werden.
2. Mobilitätsbiografie: Im Verlauf des Themenkomplexes ‚Aktivitäten/Mobilität‘ ergab es sich zumeist, dass biografische Fragen gestellt werden konnten. Ziel war es hier, Erfahrungen zu erheben, die auf den gegenwärtigen Mobilitätsalltag Einfluss haben. So erfragten wir in diesem Zusammenhang positive bzw. negative Reiseerlebnisse oder den Erwerb von Mobilitätsfähigkeiten. Aber auch Umbruchsituationen wie ein Wohnortwechsel, ein beruflicher Wechsel und grundlegende familiäre Veränderungen sollten in Bezug auf eine mögliche Veränderung der Mobilität von den interviewten Personen beschrieben werden.
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3. Wohnort: Im Themenkomplex ‚Wohnort‘ erfragten wir vor allem die Erreichbarkeit der Gesundheitsversorgung, der ÖPNV-Haltestellen und von kulturellen und sozialen Einrichtungen im Wohnumfeld. Dieser Fragenkatalog orientierte sich an den aus der Literatur erkannten wichtigen Zielkategorien. Dieser Teil des Interviews war weniger erzählgenerierend, stellte aber eine wichtige Kontextualisierung der in diesem Forschungsprojekt vorgenommenen räumlichen Analyse dar. So konnten subjektive Wahrnehmungen, zum Beispiel zur Erreichbarkeit von ÖPNV-Haltestellen, mit den Ergebnissen der GIS-basierten Auswertung verglichen werden. Erzählgenerierende Fragen, die ursprünglich für die Photovoice-Methode (die Methode stellen wir in unserem Werkstattbericht 4 vor) vorgesehen waren, wurden ebenfalls in diesem Themenkomplex gestellt. So fragten wir nach Orten, die für den Alltag der Befragten wichtig und im Leben unterstützend sind.
4. Kosten der Mobilität: Da sich die finanzielle Barriere in zurückliegenden Forschungsarbeiten als bestimmendes Moment darstellt, sprachen wir mögliche Strategien an, die darauf abzielen, Mobilität trotz geringer finanzieller Ressourcen zu bewältigen (z.B. Einsparung in verschiedenen Lebensbereichen oder das Einsparen von Mobilitätskosten, auch durch illegale Strategien). Aufgrund der Vorarbeiten zum Mobilitätsalltag von Einkommensarmen2 konnte an dieser Stelle auf mögliche Detaillierungsfragen zu angewandten Praktiken der Bewältigung des Mobilitätsalltags unter der Bedingung eines engen finanziellen Spielraums zurückgegriffen werden. Da in Berlin 2017 der Preis des Sozialtickets heruntergesetzt worden war, gingen wir in den Interviews in Berlin auf die subjektive Wahrnehmung der Preissenkung ein und fragten, ob dies den Mobilitätsalltag verändert habe.
5. Möglichkeitsraum: Dieser Themenkomplex bildete meist den Abschluss eines Interviews. Hier wurde thematisiert, welchen Stellenwert die Mobilität für die Befragten hat und welche Wunschziele sie formulieren können. Bei der Frage nach den Wunschzielen forderten wir die Personen auf, die gegenwärtigen finanziellen Restriktionen auszublenden und völlig frei mögliche Wunschziele zu formulieren. Die späteren Auswertungen zu diesem Fragenkomplex zielten darauf ab, den tatsächlichen Aktionsraum mit dem formulierten Wunschraum zu vergleichen.
Der Leitfaden bildete ein orientierendes Grundgerüst für die Gespräche. Alle Themenkomplexe wurden angesprochen und die vorbereiteten Leit- bzw. Detaillierungsfragen gestellt, sofern die befragten Personen sie nicht bereits im Vorhinein ausführlich beantwortet hatten. Den entwickelten Leitfaden sahen wir nicht als statisches Gerüst, sodass wir im Verlauf der Interviews auf individuelle Erzählungen durch Nachfragen eingehen konnten.
Datenerhebung mittels eines Kurzfragebogens
Ausschnitt des Kurzfragebogens
Nach der Erhebung des Verkehrsverhaltens durch ein Wegetagebuch und das qualitative Interview erfragten wir mit einem Kurzfragebogen soziodemografische Daten, Wohndauer, Fragen zur Verfügbarkeit von technischen Geräten (Computer, Smartphones etc.), von Verkehrsmitteln im Haushalt und die Häufigkeit der Verkehrsmittelnutzung. Somit wurde ein Erhebungsinstrument eingesetzt, wie es bei der Durchführung von problemzentrierten Interviews üblich ist3. Die erhobenen Daten dienten der Kontextualisierung der Fälle und bieten einen Überblick über das Sample der erreichten Personen. Den Fragebogen setzten wir bewusst zum Ende des qualitativen Interviews ein, um Irritationen der Befragungssituation zu vermeiden.
Während der Phase des qualitativen Interviews wurden die Teilnehmer*innen dazu angeregt, viel zu erzählen. Dies war für einige interviewte Personen ungewohnt. Der Einsatz eines standardisierten Fragebogens, der fast ausschließlich geschlossene Fragen stellt, hätte zu Beginn ein falsches Signal gesetzt und dazu angeregt, auch erzählgenerierende Fragen kurz und knapp zu beantworten. Zumeist lagen durch den Feldzugang zu Beginn des Interviews soziodemografische Daten vor, die wir in Vorgesprächen gewonnen hatten. Diese Informationen validierten wir durch den Einsatz des Kurzfragebogens.
Als problematisch erwies sich die Frage nach dem Zeitpunkt des Eintritts in die Arbeitslosigkeit. Da viele befragte Personen über einen längeren Zeitraum langzeitarbeitslos waren, konnten einige Personen hierzu keine Angaben machen bzw. sich nicht erinnern, seit wann sie arbeitslos sind. Somit war die Frage nach dem Zeitraum der Arbeitslosigkeit nur bedingt auswertbar und für die entsprechenden Personen nur qualitativ einzuordnen.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin. Bearbeiter des Projekts MobileInclusion. Leidenschaftlicher Wanderer.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung. Entwicklung von Strategien und Maßnahmen.
- Helfferich, Cornelia (2009): Die Qualität qualitativer Daten: Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 3., überarb. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. f. Sozialwiss., S. 186. ↵
- Siehe Bibliothek: Daubitz, Stephan (2013): Mobilitätsalltag von Einkommensarmen im städtischen Raum. In: Oliver Schwedes (Hg.): Räumliche Mobilität in der zweiten Moderne. Freiheit und Zwang bei Standortwahl und Verkehrsverhalten. Münster: LIT (Mobilität und Gesellschaft, 3), S. 113-133. ↵
- Witzel, Andreas (2000): Das problemzentrierte Interview. In: Forum Qualitative Sozialforschung 1 (1). ↵