Wenn der Kofferraum
zum Kleiderschrank wird

Buchempfehlung zum Thema Mobilität und soziale Exklusion:
„Tagebuch eines Obdachlosen“ von Marc Augé

Der Ethnologe und Schriftsteller Marc Augé erzählt in dem Band „Tagebuch eines Obdachlosen“ die Geschichte eines Mannes, der seine Wohnung verloren hat und nunmehr obdachlos mit einem Auto im Paris der 2010er-Jahre lebt. In Form von Tagebuchaufzeichnungen können wir den Alltag und die Bewältigungsstrategien des ehemaligen Steuerbeamten nachvollziehen.

Augé nennt die Form der Darstellung „Ethnofiktion“. Sie ist für ihn weder Literatur noch eine qualitative empirische Studie. Marc Augé bezeichnet „Ethnofiktion“ als „eine Erzählung, die eine soziale Tatsache aus der Perspektive einer einzelnen Person darstellt“.  Diese Erzählung hat nicht die Identifikation mit einem Helden oder Antihelden zum Ziel. Die präsentierte Person ist ein Symbol für den „Wahnsinn der Welt“, der sich in der Selbstbeobachtung offenbart. War es im philosophischen Roman „Candide“ von Voltaire die Beobachtung der Welt von außen, die einen Verwundern ließ, ist es bei Augé die Introspektion, die einen erstaunen bzw. erschaudern lässt.

Das Leben im Auto ist Realität – sogar im Silicon Valley

Dass die Lebensform der Obdachlosigkeit mit einem Auto im Sinne Augés eine soziale Tatsache ist, machen immer wieder Presseberichte bzw. Reportagen deutlich. Im November letzten Jahres berichtete z.B. SPIEGEL Online von der Wohnungsnot im Silicon Valley, die zur einer Schicht von arbeitenden Obdachlosen geführt hat, die in der Nacht gezwungen sind, in einem Auto zu schlafen. Für die Körperhygiene muss man/frau dann schon ins Fitnessstudio. Inzwischen gibt es auch für den deutschsprachigen Raum eine Gebrauchsanweisung für das Leben im Auto.

Die ethnofiktiven Tagebuchaufzeichnungen von Augés Protagonisten geben einen Einblick in die Strategien, in einem Auto zu leben. Der Kofferraum des alten Mercedes wird zu Kommode, in denen die Koffer verstaut werden, der Fond des Wagens wird zum Kleiderschrank. Eine Herausforderung ist es, in Paris Strafzettel zu vermeiden. Aber Augés Figur hat „einige Trümpfe im Ärmel“ und erkundet das Umfeld und „das Verhalten des Feindes“. So weiß er genau, wann und wo die Polizisten unterwegs sind, um ihre Strafzettel zu verteilen. Paris erkundet er zu Fuß. Er benutzt den Bus und die Metro als „Trägerraketen“, um von einem neuen Ort aus seine Erkundungen zu starten. Zentral ist der Verlust des Ortes, der mit einer Erosion von Identität einhergeht. Er begreift, „dass es keinen Ort mehr gab, an dem er sich festhalten“ kann.

Augé betreibt im Tagebuch eines Obdachlosen keine Sozialwissenschaft – und beforscht trotzdem Mobilität und soziale Exklusion

Das Buch Augés ist keine Gesellschaftsdiagnose oder sozialwissenschaftliche Analyse. Der Autor begründet in seiner Erklärung zu seiner Methode der Ethnofiktion, dass die sozialwissenschaftliche Analyse durch ihre fokussierten Erhebungen und Auswertungen Erzählungen „verdecken“. Die fiktiven Aufzeichnungen bieten in ihren Schilderungen aber jene metaphorische Dichte, die wir möglichst auch in qualitativen Interviews anstreben. Somit ist der Band ein empfehlenswerter literarischer Einstieg in die Thematik Mobilität und die Bedeutung des Ortes während des Prozesses zunehmender Exklusion. Die Tagebuchaufzeichnungen vermitteln einen wahren Kern sozialer Realität. Im Rahmen unseres Forschungsplans für MobileInclusion wollen wir mit unseren Erhebungen möglichst nicht Erzählungen verdecken, sondern gerade diese generieren. Und wir wollen dabei nicht stehen bleiben, sondern aus unserer Forschung begründete Strategien und Maßnahmen gegen den „Wahnsinn der Welt“ entgegensetzen.

Marc Augé: Tagebuch eines Obdachlosen

C.H. Beck Verlag, München 2012
ISBN 9783406630804
Kartoniert, 106 Seiten
10,95 Euro