„Das ist für mich undurchschaubar“

Öffentliche Mobilität muss bezahlbar und verständlich sein

Ist das öffentliche Verkehrsangebot in Hamburg wirklich öffentlich? Obwohl sie deutlich stärker darauf angewiesen sind, ist es für Einkommensarme in Hamburg nicht selbstverständlich, den ÖPNV (Öffentlichen Personennahverkehr) zu nutzen. Anders als in Berlin, wo „Hartz IV“-Empfänger_innen für 27,50 € die ganze Stadt erreichen, müssen einkommensarme Hamburger_innen sich genau überlegen, wie sie unterwegs sein wollen. Es überrascht nicht, dass in unseren qualitativen Interviews die subjektive Wahrnehmung des Tarifsystems bei den befragten Hamburgerinnen eine große Rolle spielt.

Hartz IV reicht kaum für Fahrkarten im ÖPNV

Die interviewten Personen berichten von unterschiedlichen Herausforderungen bei der Nutzung des HVV, die durch die bestehenden finanziellen Einschränkungen und Besonderheiten des Tarifsystems geprägt sind. Obwohl dreizehn der zwanzig in Hamburg befragten Personen angeben, den ÖPNV täglich zu nutzen, haben nur zwei von ihnen eine Vollzeit-Monatskarte. Diese kostet für den Bereich AB mit Sozialkarte 89 €.  Im Abonnement muss man 68,90 € bezahlen. Den Aufpreis gegenüber den im „Hartz IV“-Regelbedarf vorgesehenen 36 €1 können die Betroffenen in der Regel nicht aufbringen, ohne in anderen Bereichen der alltäglichen Versorgung wie etwa der Kleidung einzusparen.

Da der ÖPNV für einkommensarme Personen ein Hauptverkehrsmittel ist, werden von den Befragten die unterschiedlichsten Strategien gewählt, um ihre Mobilität aufrecht zu erhalten. Eine Strategie ist es, die Mobilitätskosten für die Woche bzw. den Monat genau abzuwägen, Fahrten strategisch zu planen und sich auf Einzeltickets zu beschränken. Eine andere Strategie stellt der Kauf von Teilzeit-Monatskarten dar, die mit Sozialkarte im Abo 31,20 € und ohne Abo 42,90 € kosten. Die Teilzeit-Monatskarten gelten montags bis freitags von 9 bis 16 Uhr und von 18 bis 6 Uhr. Diese Limitierung führt dazu, dass die Fahrten genau geplant werden müssen. Termine werden an das Zeitfenster angepasst, jedoch gelingt dies nicht immer. In diesen Fällen muss eine zusätzliche Einzelfahrkarte gekauft werden. So berichtet eine interviewte Person:

„Oft sind es Arztbesuche, Blutabnahme. Ich muss mindestens zweimal im Monat zur Blutabnahme aufgrund einer Erkrankung. Und da ist immer nur Blutabnahme zwischen acht und neun […]. Und deswegen muss ich da, ja, zuzahlen auf jeden Fall bzw. voll zahlen. Oder wenn ich andere Arzttermine habe, wo es dann heißt: Ja, 7:30 Uhr oder acht Uhr, oder wie auch immer, oder erst nächsten Monat. Dann muss ich in den sauren Apfel beißen, sagen: Okay, dann nehme ich den und zahle. Weil ich sonst erst Wochen später einen Termin kriegen würde und so was. Das kommt sehr, sehr oft vor, ja.“ [P24]

Die Gefahr, sich bei unvorhergesehener Zeitüberschreitung (z. B. durch Verspätung der Verkehrsmittel) des nutzbaren Zeitfensters des Tickets strafbar zu machen, führt dazu, dass die betroffenen ihre Mobilität ständig planen müssen. Dies empfinden sie als belastend und diskriminierend:

 „[…] Ich muss immer gucken: Wie fahre ich wo? Wann muss ich den Bus verlassen, damit ich nicht in die 16 Uhr-Zeit komme. Das wäre das Allererste, weil man fühlt sich schon diskriminiert, muss man ganz ehrlich sagen. So ein Ballast: Der Ballast muss dann wegbleiben, weil dann fahren die vernünftigen Leute Bus und Bahn. Also müssen wir schnell weg irgendwie von der Bildfläche, so ungefähr.“ [P24]

Aus Perspektive der Teilhabe stellt die Teilzeit-Monatskarte offenbar kein adäquates Angebot dar, da die Anforderungen des Mobilitätsalltags von Einkommensarmen sich nicht immer in das vorgegebene Zeitfenster einpassen lassen. Neben Arztterminen sind es auch Bring- und Holwege z.B. für Schulkinder, die nicht ohne weiteres mit der Nutzung einer Teilzeit-Monatskarte vereinbar sind. Auch das Schüler_innenticket stellt für einkommensarme Haushalte eine Belastung dar. Eine Schülerhauptkarte kostet im Monat 51,10 Euro (im Abo 41,90). Kinder aus einkommensarmen Familien erhalten einen Sozialrabatt von 22,20 Euro. In Berlin oder Rostock wurden einkommensarme Haushalte entlastet: Seit 2019 können Berliner Schüler*innen kostenlos mit dem öffentlichen Nahverkehr fahren. Mit dieser Maßnahme möchte die Landesregierung Familien mit schulpflichtigen Kindern unterstützen. Mehrere Landkreise in Brandenburg und Sachsen-Anhalt bringen ebenfalls kostenlose Schüler*innentickets auf den Weg.

Eine alleinerziehende Mutter aus Hamburg schildert im Interview, dass sie gänzlich auf ein Ticket verzichtet, um ihre Kinder zu Fuß zur Schule zu bringen:

„Man kann sie nicht jeden Morgen zwei Kilometer zu Fuß laufen lassen. Das hab ich zum Beispiel mit meiner Großen gemacht, als sie in der dritten Klasse war. Ich bin anderthalb Jahre mit ihr den Weg, das waren jeden Morgen 1,7 Kilometer, mit drei Kindern, und das jeden Morgen … Weil da bin ich auch zu geizig, tut mir leid, jeden Tag da und … Eine CC-Karte [gemeint ist die Teilzeit-Monatskarte] hat mir noch nicht mal was gebracht, weil sie um acht in der Schule sein muss. So, und dann bin ich gelaufen mit den Kindern. Also ich meine, für die ist das gut, aber für mich ist es trotzdem viel Zeit und Stress.“ [P37]

Oder es werden Verspätungen zu Terminen bewusst in Kauf genommen – in der Hoffnung, dass Verständnis für die prekäre Situation aufgebracht wird. So schildert die Teilnehmerin eines Sprachkurses, dass sie regelmäßig 20 Minuten zu spät kam, da sie das Geld für eine zusätzliche Fahrkarte nicht aufbringen konnte. „Und ja, ich hab immer zu spät, die ganzen Jahre, weil ich hatte kein Geld [für die normale] Fahrkarte. Und dann ich muss immer ab 9 Uhr fahren. Und dann ich bin 20 Minuten immer zu spät. Aber Gott sei Dank, die Lehrer ist; war sehr nett und hat [mich] verstanden.“ [P12]

Zonen werden als Einschränkung der Mobilität empfunden

Als eine weitere Limitierung wird von den befragten Personen in Hamburg die Unterteilung des Tarifgebiets in Ringe und Zonen empfunden. Als Konsequenz orientiert sich die Mobilität am Zuschnitt der Tarifzonen. Dies führt zum Beispiel zum Abbruch von Fahrten kurz vor Zonengrenzen, wobei die restliche Wegstrecke zu Fuß absolviert wird. Die Bewältigung der Mobilität wird so selbst zu einer Barriere bzw. ist mit Hürden verbunden. Es werden keine Routinen ausgebildet, sondern immer wieder werden den Betroffenen situative Planungsentscheidungen abverlangt, um mit möglichst geringen finanziellen Belastungen zum Ziel zu kommen.

Viele der Befragten empfinden das Tarifsystem als zu kompliziert und teilweise auch als ungerecht.  So schildert eine Person folgende Situation: „Also für das Ticket, wenn ich Ziegelerstraße losfahre bis Harburg Rathaus – 1,70 Euro. Wenn ich mit dem Bus fahre von der Ziegelerstraße aus. Und wenn ich von der Ziegeler erst den Umweg über den S-Bahnhof Wilhelmsburg nehme und dann nach Harburg, dann bezahle ich schon 2,30 Euro, 2,40 Euro, weil das nicht mit in diesem Kreis drin ist und weil das ja noch S-Bahn ist. Es ist; da bezahlt man schon 70, 80 Cent mehr, ne? Das finde ich ein bisschen ungerecht so eigentlich, obwohl ich dann nicht weiter … Ja, es … Die legen das ja so aus, es könnte ja sein, dass ich da noch mit dem Bus weiterrolle hier. Dass ich nicht vom S-Bahnhof dann zu Fuß nach Hause oder … Also für mich macht das aber keinen Sinn. Also absolut nicht.“ [P19]

Die Erzählung haben wir mit einer Fahrtenabfrage beim HVV nachvollzogen. Und tatsächlich: Für die gleiche Fahrzeit von zwanzig Minuten sind, abhängig vom Verkehrsmittel, unterschiedliche Preise zu zahlen.

Abfrage der Route mit dem HVV Routenplaner

Nicht alle der Befragten bewegen sich souverän im Hamburger Nahverkehr. Für einige der Befragten stellt das Tarifsystem eine Überforderung dar und wird als viel zu kompliziert empfunden. So erzählt eine befragte Person aus Wilhelmsburg: „Ja, zum Beispiel, was undurchschaubar für mich ist, ist das mit den Ringen. Ich gucke da drauf, und weiß nicht, in welchem Ring bin ich usw. Das ist ja störend. Also wir sind auch nicht so … In Magdeburg war das so, Sie haben eine Fahrkarte gekauft, konnten dann 90 Minuten fahren damit, egal in welche Richtung. Und das war gut. Da braucht man das nicht mit den Ringen machen. Wenn Sie in 90 Minuten nicht durch Hamburg sind, dann können Sie nachbezahlen oder so. Das wäre doch eine Möglichkeit, wo ich sage: Das ist gut, ja. […] Ich denke, das ist auch so … Das vereinfacht vieles, wenn man nicht gucken muss: In welchem Ring bin ich denn jetzt? Reicht meine Fahrkarte noch?“ [P20]

In einigen Statements der interviewten Personen wird der Wunsch nach einem vereinfachten Tarifsystem gefordert. Stellvertretend sei hier die Forderung einer Mutter von fünf Kindern zitiert, die sich mehr Bewegungsfreiheit wünscht: „Ja, ich finde es schon wichtig, dass … Also auch, wenn es vielleicht nicht für ganz Hamburg dann ist, die Fahrkarte, aber ich denke, auch ein Mensch, der wenig Geld hat, soll irgendwie was vom Leben haben und nicht immer draufzahlen müssen. Und dass einfach … Es kann nicht sein, dass ich mit der Fahrkarte [gemeint ist eine Zwei-Zonen-Karte, d.A.] zur Lübecker Straße fahren kann, aber dann nicht nach Bramfeld. Das ergibt irgendwie keinen Sinn. Also es müsste eigentlich schon größer sein, der Bereich, wo man sich bewegen darf, ne?“  [P:26]

Nun fordert die befragte Person noch nicht einmal ein Sozialticket für den ganzen Stadtraum von Hamburg ohne zeitliche Limitierung. Aber warum eigentlich nicht? Warum sollte für Hamburg nicht möglich sein, was in Berlin schon Realität ist? Ein Sozialticket als Monatskarte zu einem festen Preis, der sich am „Hartz IV“-Regelbedarf für Mobilität orientiert und für die ganze Stadt gilt. Vielen Menschen in Armut, das zeigt unsere Befragung, würde das helfen. Dabei geht es nicht nur um den Preis – sondern auch darum, sich nicht ständig einem komplexen Tarifsystem ausgeliefert zu sehen.

Ein solches Sozialticket würde mehr Teilhabe ermöglichen und entferntere Ziele – die gegenwärtig selten bis gar nicht wahrgenommen werden – wieder in Reichweite rücken. Damit Teilhabe gelingen kann, sollte öffentliche Mobilität bezahlbar und verständlich sein.

Die beiden Grafiken fassen Ergebnisse aus den Interviews zusammen. Sie stellen die beiden Phänomene „Teilzeitkarte“ und „Sozialkarte“ in Hamburg dar. Diese Anordnung ist mithilfe des „axialen Kodierens“ der Grounded Theory entstanden, das verschiedene Begriffe miteinander in Kontext setzt.