Über die eigene Mobilität sprechen
Werkstattbericht: Wie wir unsere qualitativen Interviews durchführten
Im Forschungsprojekt MobileInclusion haben wir qualitative Interviews mit 40 einkommensarmen Personen geführt. Im Werkstattbericht 5 wurde der Leitfaden unserer Interviews und der dazugehörige Kurzfragebogen vorgestellt. Im Werkstattbericht 1 hatten wir bereits ausführlich beschrieben, wie der Kontakt zu den Teilnehmer*innen zustande kam. Dieser Beitrag soll nun den Ablauf der Interviews darstellen.
Erster Kontakt zu den Teilnehmer*innen
Die teilnehmenden Personen nahmen telefonisch Kontakt zu uns auf. Wir vereinbarten einen Termin, um das Wegetagebuch zu übergeben und den Ablauf der Erhebung genau zu erklären. Bereits in dieser Sitzung wurde über den eigenen Mobilitätsalltag gesprochen. Wir machten hier keine Audioaufzeichnungen, denn zunächst ging es primär darum, den Proband*innen eine Einweisung in das Wegetagebuch zu geben und ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. In der Regel dauerten die Gespräche etwa eine Stunde. Nach den Sitzungen fertigten wir Feldnotizen an, um einen ersten Überblick über den Mobilitätsalltag zu gewinnen und beim späteren Interview darauf eingehen zu können. Hier ist der Ausschnitt einer Feldnotiz dargestellt:
„[…] Ich lud H. zu einem Cappuccino ein. Die gemeinsame Bekanntschaft mit K. war ein guter Anknüpfungspunkt für das Gespräch. Wir kamen sehr schnell auf das Sozialticket zu sprechen, dass sie nutzt. Dabei erwähnte sie, dass sie während ihres Knastaufenthalts im Jahre 2002 Frauen kennengelernt hatte, die wegen Schwarzfahren eingesessen sind. Sie erwähnte, dass sie selber mit dem Bus 41 regelmäßig unterwegs sei. Vor allem zum Hermannplatz fahre, um Flaschen zu sammeln. Auf die Frage, ob sie sehr viel unterwegs sei, verneinte sie das. Ich erzählte ihr von meiner Idee, dass ich mal Flaschensammler begleiten wollte, um ein Gefühl für die Strecken zu bekommen, die da am Tag bewältigt werden. H. erzählte, dass im Kiez einer unterwegs sei. Der sei aber verrückt. Seine Schuhe wären mit Klebeband zusammengehalten und die Jacke total zerrissen. Man erzählt sich: Der sei in Wahrheit Millionär. Der wäre aber hochmobil und wäre irre unterwegs. H. hat ein Fahrrad, aber das ist nicht funktionstüchtig.“
Zum Erzählen anregen und konkret nachfragen
Die 40 Interviews führten wir im Zeitraum von November 2018 bis Juni 2019 durch. Sie wurden an Orten geführt, an denen sich die Teilnehmer*innen wohl fühlten und ein ungestörtes Gespräch möglich war – zum Großteil bei sozialen Trägern oder in Nachbarschaftsheimen. Nur drei Interviews haben wir in der Wohnung der Befragten durchgeführt.
Beim Treffen hat die befragte Person das Wegetagebuch an uns überreicht. Hier haben wir betont, dass es keine „falschen“ oder „richtigen“ Antworten gibt, sondern den Interviewer die eigenen Wahrnehmungen, Erfahrungen und vor allem Erzählungen interessieren.
Zu Beginn haben wir eine möglichst repräsentative bzw. alltägliche (immer wiederkehrende) Aufzeichnung im Wegetagebuch ausgesucht, um dieses Erlebnis möglichst detailliert durchzugehen. Im nächsten Schritt haben wir weitere alltägliche Ziele des Wegetagebuchs thematisiert. So konnten die Befragten im Idealfall zu jedem Eintrag etwas erzählen.
Die Alltagswege einer befragten Person und Zitate aus dem Interview
Nach den alltäglichen Wegen wurden besondere Wege thematisiert. An einem Beispiel soll dieses Vorgehen gezeigt werden. In einem Tagebuch wurde von einer Person die Fahrt zu einem Postfach aufgeschrieben.
Im Wegetagebuch wurde der Weg zu einem Postfach verzeichnet
Dies war ein außergewöhnliches Ziel, zumal es am anderen Ende Berlins liegt. Die interviewte Person schilderte auf Nachfrage den Weg zum Postfach. Da der Grund für diesen Weg nicht einleuchtend war, fragten wir genauer nach. Die Probandin erläuterte daraufhin ihren Beweggrund, ein Postfach zu verwalten:
„Aus dem einfachen Grund, weil meine Eltern es leider Gottes immer so gehandhabt haben, wenn Post für mich kam, dass sie sie aufgemacht haben. Und das ist ja nun mal ein Unding für mich und deswegen habe ich mir dann ein Postfach zugelegt. So geht die ganze Post an mein Postfach, nur ich habe Zugriff. Wenn ich’s mal nicht schaffe, kann meine allerbeste Freundin aus Spandau draufzugreifen, auf mein Postfach, und die Post für mich holen. Da weiß ich auch, dass die nicht reinguckt, im Gegensatz zu meinen Eltern. Und somit habe ich dieses Risiko, dass meine Eltern meine Post lesen, abgewendet.“ [P1]
Material zum Download
Da zumeist konkrete Ziele benannt wurden, konnten wir gute Rückfragen stellen. Zum Beispiel ergab sich auf die Nachfrage, warum man nicht zu einem Freizeitort, dem Miniaturwunderland in Hamburg, fahren konnte, folgende Antwort:
„Weil im Januar Miniatur-Wunderland … Eigentlich kostet die Eintrittskarte 11 Euro für Kinder irgendwas. Im Januar jedes Jahr machen sie Angebote. Man geht dahin, schreibt man in Papier: Ich kann mir nicht leisten. Oder man sagt mündlich: Ich kann mir nicht leisten. Dann geht man rein. Braucht man nicht … Das ist eigentlich für Leute gedacht, die wenig Geld haben. Sie können auch heute dahingehen, heute zum Beispiel, sagen Sie: Ich kann mir nicht leisten. Dann gehen Sie rein. Und deswegen wollte ich unbedingt im Januar das benutzen. Und ab Februar muss ich da, weiß ich nicht, 30 Euro bezahlen für gesamte Familie. Das machen sie, diese Angebote, nur im Januar. Ja. Und da fehlt wieder die Fahrkarte.“ [P17]
Zum Abschluss: Kurzfragebogen, Mobilitätsratgeber und weitere Hinweise zur eigenen Mobilität
Die Erhebung schloss mit dem Ausfüllen des Kurzfragebogens ab. Zum Ende der Sitzung übergaben wir den Teilnehmer*innen unseren Mobilitätsratgeber und einen Einkaufsgutschein im Wert von 20 Euro. In einigen Fällen konnten uns Teilnehmer*innnen im Nachgespräch noch konkrete Hinweise zur eigenen Mobilität geben.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin. Bearbeiter des Projekts MobileInclusion. Leidenschaftlicher Wanderer.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung. Entwicklung von Strategien und Maßnahmen.