Diese Illustration wurde vom MidJourney-Bot erstellt, der KI-basiert Bilder generiert. Der Befehl dazu steht in der Fußnote1. Lizenziert nach CC BY-NC 4.0 Attribution International

Warum war MobileInclusion wichtig?

Ein Resümee aus drei Jahren Forschung zu Armut und Mobilität

Im Januar 2018 eröffneten wir unseren Forschungsblog. Zwischen damals und heute liegen Welten: eine Pandemie setzte dem Nahverkehr zu, ein Angriffskrieg verteuerte die Lebenskosten. Die Bundesregierung steuerte mit dem 9-Euro-Ticket gegen und setzte kurzerhand das verkehrspolitische Experiment des Jahrzehnts in Gang. Für drei Monate war der Nahverkehr plötzlich für alle da, unabhängig von ihrem Geldbeutel. Und heute diskutieren wir ein bundesweites ÖPNV-Ticket für 49 Euro, das in mehreren Regionen auf unter 30 Euro rabattiert wird – noch vor einem Jahr wäre diese Diskussion völlig abwegig erschienen.

Immer noch und immer wieder sind es Menschen in Armut, denen die Lebenskosten am stärksten zusetzen. In diesem abschließenden Blogbeitrag bleiben wir unserem Anspruch treu und nehmen ihre Perspektive ein. Dabei nehmen wir Bezug auf die drei Thesen unseres ersten Beitrags, ordnen unsere Ergebnisse aus drei Jahren Forschungstätigkeit ein und wagen einen Ausblick auf die Zeit nach dem 9-Euro-Ticket.

Erstens: Die Ungerechtigkeit ist augenfällig
– und ist in erster Linie eine Preisfrage

Unsere erste These müssen wir, leider, bekräftigen. Noch immer übersteigen die Kosten für den ÖPNV das Budget, das der Regelbedarf des Bürgergeldes hergibt. Die Preise im Nahverkehr steigen inflationsbereinigt stärker als für andere Verkehrsmittel.2 Knapp fünf Prozent der Gesamtbevölkerung und zehn Prozent der Armutsgefährdeten geben an, dass sie sich den ÖPNV nicht regelmäßig leisten können, was trauriger Rekord in Mitteleuropa ist.3 Und noch immer schickt eine überforderte Justiz Menschen ins Gefängnis, die ohne Fahrschein aufgegriffen werden und die Geldstrafe nicht zahlen können.4 Unsere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass mobilitätsbezogene soziale Exklusion im städtischen Raum vor allem eine Preisfrage ist. In unseren Untersuchungsgebieten in Berlin und Hamburg wurde etwa die Distanz zur nächsten Haltestelle kaum bemängelt – dafür stellt der Tarif eine große Hürde dar, den Nahverkehr zu nutzen. Wie es einige Befragte in Worte fassen:

„Ich mache schon so die Überlegung: […] Wo muss ich am wenigsten bezahlen, was macht Sinn? Wo ich es dann auch so legen kann. Auf jeden Fall. Aber es ist ein Kraftakt trotzdem. Weil das fehlt mir ja wieder woanders, ne?“
Interviewpartner 19, Hamburg-Wilhelmsburg, 40 Jahre alt, fast täglich mit dem ÖPNV unterwegs
„Na ja, also das Geld reicht vorne und hinten nicht […] … Also diese 27,50 da sind wohl mit drin im Hartz-IV, aber die gebe ich lieber für Essen aus für mein Kind, anstatt mir da-von eine Fahrkarte zu holen.“
Interviewpartner 4, Berlin-Hellersdorf, 28 Jahre alt, alleinerziehende Mutter
„[A]m Anfang des Monats [muss man sich] schon immer Geld wegpacken, damit man dann notfalls dann mit dem Bus fahren kann. Und das sind dann immer, ja, die Gelder, die dann eigentlich immer fehlen, um irgendwas Anderes dann zu machen, um dann wirklich mal zum Geburtstag zu fahren oder Museen oder irgendwie, ne?
Interviewpartnerin 21, Hamburg-Wilhelmsburg, 46 Jahre alt, regelmäßig mit dem ÖPNV unterwegs

Zweitens: Die Ausgrenzung verhindert Teilhabe
– und das selbst in der Großstadt

Wie unsere Befragten zahlreich berichten, sind es keine Luxus-Orte, die sie in ihrem Mobilitätsalltag aufsuchen. Zum Facharzt, zum Einkaufen, zur besten Freundin möchten sie. Dabei schränkt sie ein Tarif ein, der sie finanziell überfordert und bisweilen auch schwer verständlich ist. Der Bartarif verspricht zwar ein Stück Flexibilität am Monatsende, wenn kaum noch Geld da ist – aber erfordert eine Fachkenntnis der Tarifregeln. Die Folge: Eine Minderheit eignet sich Expertenwissen an und jongliert souverän mit Zahlgrenzen (Wir nennen sie Die Erlebnishungrigen), während viele andere resignieren (etwa Die Wohnumfeld Verbundenen). Dabei hilft es den Befragten nicht, dass der ÖPNV direkt vor der Tür fährt. Wo der Nahverkehr so teuer ist, dass Fahrten über das Notwendigste hinaus nicht in Frage kommen, ist an Teilhabe nicht zu denken.

Drittens: Wir brauchen eine Antwort auf die Ausgrenzung
– und machen mit dem Deutschlandticket womöglich einen riesigen Schritt

Der Sommer 2022 schüttelte die Verkehrspolitik durch. Mit dem 9-Euro-Ticket blies die Bundesregierung zur „Revolution“, wie diverse Nachrichtenseiten ausdrucksvoll vermeldeten.5 Und in der Tat umwehte das 9-Euro-Ticket ein Hauch von Umsturz: Drei Monate lang war die Kleinstaaterei der Tarifverbünde passé. Das 9-Euro-Ticket entlastete alle und brachte besonders den Menschen in Armut eine unverhoffte Sorglosigkeit. „Ich kann die Freiheit gar nicht in Worte fassen“, umschrieb eine „Hartz IV“-Empfängerin ihre Erfahrung mit dem 9-Euro-Ticket im hvv.

Wer in einer der beiden größten Städte lebt, hat weiterhin Glück: In Hamburg sollen Bedürftige das Deutschlandticket für 24,20 19 Euro erhalten6 und auch Berlin möchte wohl an der 29-Euro-Variante festhalten.7 Macht dieses Modell bundesweit Schule, bedeutet es einen riesigen Schritt für die Teilhabe einkommensarmer Menschen! Zwar ist noch immer nicht klar, wer das Deutschlandticket überhaupt bezahlt8 und einige Busunternehmen kündigen an, das Ticket nicht zu akzeptieren9 – aber wenn Berlin und Hamburg Wort halten und wenn andere Kommunen folgen, dann erreicht die „Revolution“ ganz besonders die Armen.

Auch bei der Kriminalisierung des Fahrens ohne gültigen Fahrschein scheint sich die Politik zu bewegen. Unter dem Druck u.a. der Initiative Freiheitsfonds erklärt sich der Justizminister bereit, die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren. Obwohl etwa Bayern weiterhin Menschen wegen eines Armutsdelikts einsperren will,10 scheint also Bewegung in die Sache zu kommen.

Drei Strategiepfade, um ‚Mobilitätsarmut‘ zu bekämpfen:
Der Endbericht von MobileInclusion zum Download

Mit dem auf 24,20 Euro rabattierten Deutschlandticket eröffnet Hamburg vielen Menschen in Armut enorme Möglichkeiten. Indem sie das Ticket rabattiert, setzt die Politik hier direkt eine der Empfehlungen um, die wir in unserem Endbericht formulieren. Insgesamt skizzieren wir in unserem Endbericht drei Strategiepfade, um mobilitätsbedingter sozialer Exklusion zu begegnen:

Hausanschluss Mobilität: Maximale Teilhabe ermöglichen

Hausanschluss Mobilität

strebt maximale nicht-automobile Teilhabe an, umfasst weitreichende Maßnahmen der Verkehrs- und Sozialplanung

Beispielhafte Maßnahmen:
Günstiges ÖPNV-Abo einführen, nicht nur für Einkommensarme (vgl. Deutschland-Ticket)
ÖPNV ausbauen, insb. in Quartieren mit geringer Pkw-Verfügbarkeit
Rad-Infrastruktur ausbauen

Empowerment: Individuelle Mobilitätskompetenz fördern

Empowerment

richtet sich an Einkommensarme; fördert Kompetenz und finanzielle Möglichkeit, sich souverän im Stadtraum zu bewegen

Beispielhafte Maßnahmen:
Sozialticket an die Mobilitätskosten der ärmsten 15% anpassen (2020: 77 Euro/Monat)
Tickets für Schüler:innen rabattieren
Kompetenzen vermitteln: Radfahren, Sprache, Tarifsystem
Mobility as a Service in Quartieren mit hoher Armutsquote etablieren

Mindeststandard: Essenzielle Bedürfnisse sichern

Mindeststandard

schafft Bedingungen für Arme, um Bedürfnisse zu erfüllen – finanziell und auf Erreichbarkeit bezogen

Beispielhafte Maßnahmen:
Sozialticket an den Regelbedarf des Bürgergelds anpassen (2023:45,02 Euro)
Sozialticket neutral gestalten, Stigmatisierung verhindern
Tarif-Erreichbarkeit im Nahverkehrsplan aufnehmen

Die Strategiepfade unterscheiden sich in ihrem Wirkungsbereich. Die Strategie Hausanschluss Mobilität hat eine klima- und sozialgerechte Mobilität zum Ziel, die allen gesellschaftlichen Schichten zugutekommt. Sie spricht die politischen Institutionen der Verkehrs- und Sozialplanung für eine Umsetzung an. Die Strategie Empowerment hat zum Ziel, individuelle Mobilitätskompetenzen zu fördern. Durch die Vermittlung von Informationen und Kompetenzen und die Bereitstellung von neuen Mobilitätsdienstleistungen soll der individuelle Möglichkeitsraum ausgebaut werden. Ziel ist es, persönliche Barrieren und Informationsdefizite abzubauen und selbstverantwortliches Handeln zu stärken. Hier sollten Quartiersmanagements eingebunden werden und die Angebote müssen dauerhaft finanziert sein. Idealerweise werden die Strategien Hausanschluss Mobilität und Empowerment gleichzeitig umgesetzt, um eine nachhaltige Nutzung zu etablieren. Es genügt also nicht, Verkehrssysteme zur Verfügung zu stellen, sondern Information und Motivation sind wichtige Faktoren für eine erfolgreiche Nutzung. Die Strategie Mindeststandard ist im Gegensatz zu den anderen Strategien die am einfachsten zu realisierende.

Unser Endbericht erscheint in Buchform im LIT-Verlag. Darüber hinaus stellen wir ihn hier im Volltext zur Verfügung:

Symbolbild Titel DVWG Journal für Mobilität und Verkehr

Endbericht herunterladen

Mobilität und soziale Exklusion: Alltag-Strategien-Maßnahmen

LIT-Verlag
Reihe „Mobilität und Gesellschaft“
herausgegeben von Weert Canzler, Stephan Rammler und Oliver Schwedes

Jetzt hier herunterladen
(PDF, 11 MB)

Resümee: Wir haben ‚Mobilitätsarmut‘ problematisiert und damit den Diskurs geprägt

Nach drei Jahren stellen wir fest: Mobilitätsbedingte soziale Exklusion ist nach wie vor ein fester Bestandteil im Lebensalltag vieler armer Menschen. Sie ist, wie viele Formen der Ausgrenzung, zunächst eine Geldfrage, wobei sich ein knapper Geldbeutel und mangelnde Teilhabechancen wechselseitig verstärken.
Dank dem 9-Euro-Ticket waren die Geldsorgen einen Sommer lang passé – zumindest in Bezug auf die Mobilität. Und wie sich abzeichnet, können viele arme Menschen bald zumindest in Berlin und Hamburg ein Deutschlandticket für unter 30 Euro kaufen. Das haben sie in erster Linie der ‚Revolution‘ zu verdanken, die durch die Tariflandschaft fegte (s.o.) und nicht unserem Forschungsprojekt. Aber die Resonanz, die unsere Arbeit erfährt, zeigt uns: MobileInclusion hat den öffentlichen Diskurs und manche politische Debatte geprägt.

  1. Befehl für den MidJourney-Bot: „a smiling white elderly woman in a dark red coat and a young black smiling man who wears a dark green working clothes at a metro stop near the ticket machine holding a small ticket in front of a light turquoise background, smiling and glancing out of the window photorealistic –v 4 –ar 3:2“
  2. Im MiD-Zeitreihenbericht für den Zeitraum 1991 bis 2018 dargestellt (S. 23), im DIW-Gutachten für 1991 bis 2017 (S. 25)
  3. Baptista & Marlier 2020: Access to essential services for people on low incomes in Europe. An analysis of policies in 35 countries (S. 75)
  4. Eine präzise Auseinandersetzung mit der Ersatzfreiheitsstrafe führt Ronen Steinke in seinem Buch, das 2022 erschienen ist: Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz. Steinke zitiert dort einen Gefängnisdirektor, der kritisiert, dass die Justiz als „verlängertes Inkassobüro der Verkehrsbetriebe“ missbraucht werde (S. 104).

    Die Initiative Freiheitsfonds hat 2021 medienwirksam damit begonnen, Häftlinge freizukaufen. Inzwischen verlassen sich bereits Gefängnisse auf diese Hilfe, was Arne Semsrott vom Freiheitsfonds als „absurde Situation“ kritisiert (ZDF/frontal, 01.11.2022: Kontrolleure außer Kontrolle, ab Minute 5:45)

  5. etwa der Tagesspiegel (Paywall), die SZ, GIGA und der Freitag (Paywall, unter Mitarbeit von Stephan Daubitz)
  6. Update 28.03.2023: Der Preis wurde auf 19 Euro/Monat gesenkt, wie der hvv mitteilte. Bislang war ein Preis von 24,20 Euro/Monat angekündigt, siehe hvv-Pressemitteilung vom 11.11.2022
  7. SZ Online vom 03.04.2023: Was gilt in welchem Bundesland? Eine Übersicht zum Deutschlandticket,
    ZEIT Online vom 12.03.2023: Deutschlandticket: Das 49-Euro-Ticket wird nicht überall 49 Euro kosten
  8. Wenn es beim Preis von 49 Euro bleibt, bedeutet das massive Fahrgeldeinbußen bei den Abonnements. Jan Werner vom Beratungsunternehmen kcw umschreibt das Deutschlandticket als „Staubsauger“, der Milliardenbeträge aus dem ÖPNV-System saugt. Dieses Geld müsse der Bund ersetzen, damit der Nahverkehr seinen Beitrag zur Mobilitätswende leisten könne. Sinngemäß zitiert aus dem Webinar „Das 9-Euro-Ticket und die Verkehrswende (Teil 3) – Ausblick: Was muss die Politik jetzt für den ÖV tun?“ von Agora Verkehrswende.
  9. NDR vom 22.02.2023: Deutschlandticket könnte in vielen Bussen nicht gültig sein
  10. ZDF/frontal, 01.11.2022: Kontrolleure außer Kontrolle, ab Minute 7:30