Transkripte, Kodes und Memos
Werkstattbericht: Wie wir unsere Interviews dokumentiert und ausgewertet haben
Für unser Forschungsprojekt haben wir 40 Interviews mit Personen in Armut geführt, um ihren Mobilitätsalltag kennenzulernen. Wie wir diese Personen gefunden hatten, beschreiben wir im Werkstattbericht 7. Zur Struktur und zum Ablauf der Interviews gibt es weitere Informationen in den Werkstattberichten 5 und 6. Um die Interviews auswerten zu können, haben wir sie zunächst exakt dokumentiert. Wie wir bei der Dokumentation und Auswertung der Interviews vorgegangen sind, beschreiben wir in diesem Blogbeitrag.
Interviews dokumentieren
Wir haben die Interviews mit einem Audiogerät aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Die Transkription wurde wörtlich übertragen: Die gesprochene Sprache wurde nicht bereinigt und die schriftliche Dokumentation gibt den originalen Verlauf des Gesprächs wieder. Die Verwaltung und Auswertung der Textdokumente haben wir mit ATLAS.ti vorgenommen. ATLAS.ti ist ein Programm für die qualitative Analyse von großen Mengen von Erhebungsdaten.
Deduktive und induktive Kodierung
In einem Team von zwei Personen haben wir anschließend die Texte kodebasiert ausgewertet. Gemeinsam haben wir die Texte an einem Smartboard gelesen und einzelnen Textsegmenten verschiedene Kodes zugewiesen.
Bei der Kodierung wurden zwei Zugänge gewählt. Zum einen standen die Kodes vor der Auswertung fest, und ergaben sich aus den Zielkategorien der Erreichbarkeitsanalyse (z. B. Apotheke, Gesundheitsversorgung, oder kulturelle Einrichtungen). In den Textsegmenten, in denen die interviewten Personen über Apotheken in ihrem Wohnumfeld sprachen, haben wir das entsprechende Stichwort Apotheke mit diesem Textsegment verlinkt. Das Ziel dieses Zugangs der Kodierung war es, sehr schnell einen vergleichbaren Überblick zu den subjektiven Wahrnehmungen von Erreichbarkeiten wichtiger Zielorte zu gewinnen. Diese Auswertungsstrategie lässt sich als deduktives Vorgehen einordnen.
Ein zweiter Zugang des Kodierens orientierte sich an den Auswertungsschritten der Grounded Theory nach Glaser1 und Strauss2 und ist induktiv angelegt. Wir wollten nicht nur einzelne Textsegmente benennen, sondern schon Zusammenhänge erkunden, aus denen sich theoretische Konzepte entwickeln sollten. Im Mittelpunkt standen Phänomene wie beispielsweise der Umgang mit dem HVV-Tarifsystem. Diese Phänomene wurden von den Teilnehmer*innen in den Interviews formuliert und waren für den Mobilitätsalltag äußerst bestimmend. Die Daten kodierten wir daraufhin auf die Relevanz des Phänomens hin. Vor allem Strategien, Taktiken und deren Konsequenzen wurden kodiert.
Im folgenden Beispiel spricht die interviewte Person die Strategie an, ihren Tag eigenständig zu strukturieren, was bestimmend für ihren Mobilitätsalltag ist. Entsprechend haben wir in einem ersten Schritt den Kode ‚Tagesstrukturierung‘ vergeben. In einem Memo ‚Jobsuche bestimmt Tagesstrukturierung‘ haben wir erste interpretative Schritte festgehalten. Memos sind Notizen, die einzelnen Textsegmenten zugewiesen werden.
Screenshot einer Kodierungssequenz
Dieser erste Schritt führte uns zu ersten zentralen Kategorien. Eine Dimension wäre beispielsweise die Form der Tagesstrukturierung. Diese kann entweder von außen vorgegeben sein (z.B. durch Teilnahmen an einer Maßnahme des Jobcenters) oder es besteht ein Mobilitätsalltag, der sich anscheinend völlig situativ und frei von einer Tagesstrukturierung gestaltet.
Zusammenfassung in Kodefamilien
Die offenen Kodes haben wir in sogenannte Kodefamilien zusammengefasst. Unter Kodefamilien sind hier zentrale Phänomene zu verstehen, um die herum die zugehörigen Kodes zugeordnet sind. Die finanziellen und persönlichen Barrieren bildeten sich hierbei als relevante Schlüsselkategorien für die Beschreibung mobilitätsbezogener Exklusion heraus. Die Kategorie subjektive Wahrnehmung von Erreichbarkeit ist vor allem aus dem gezielten Abfragen der Zielkategorien unserer Erreichbarkeitsanalyse gewonnen (hier ein Beispiel für Hamburg). Ebenso haben wir thematische Kodefamilien gebildet, mit denen wir das Sample hinsichtlich der Verkehrsmittelnutzung qualitativ beschreiben können.
Auswertungsablauf
Zusammenspiel der qualitativen Auswertung und der quantitativen Erreichbarkeitsanalyse
Die qualitativen Auswertungen in dieser Phase erbrachten vor allem einen Einblick in die bestimmenden Barrieren des Mobilitätsalltags von einkommensarmen Menschen. Dadurch war ein erster Bezug zu den durchgeführten Erreichbarkeitsanalysen möglich. So deckten sich beispielsweise die quantitative Erreichbarkeit der Haltestellen des ÖPNV mit den erhobenen subjektiven Wahrnehmungen der befragten Personen, die in beiden Fällen positiv bewertet wurde.
Nachdem wir die Interviews ausgewertet hatten, konnten wir uns auf den nächsten Schritt unseres Forschungsplans konzentrieren: räumliche Muster und Typen mobilitätsbezogener sozialer Exklusion identifizieren. Die beschriebenen Auswertungsschritte bildeten die Ausgangssituation hierfür. Einen ersten Einblick in die Forschungsergebnisse dieses Schrittes bieten unsere Faktenblätter, die hier zum Download zur Verfügung stehen.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin. Bearbeiter des Projekts MobileInclusion. Leidenschaftlicher Wanderer.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung. Entwicklung von Strategien und Maßnahmen.
- Glaser, Barney G. (1978): Theoretical Sensitivity: Advances in the Methodology of Grounded Theory. Mill. Valley, Calif.: Sociology Press. ↵
- Strauss, Anselm A. (1991): Grundlagen qualitativer Sozialforschung: Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. München: Fink. ↵