Wenn das Fahrrad Möglichkeitsräume eröffnet – der Verein #BIKEYGEES e. V.
Der Berliner Verein #BIKEYGEES e.V. setzt auf das Empowerment von (geflüchteten) Frauen: durch Radfahrtrainings helfen die Ehrenamtlichen den Frauen, mobiler zu werden – und schaffen damit die Voraussetzung für Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.
Seit drei Jahren gibt es die #BIKEYGEES. Im Herbst 2015 fingen Annette Krüger und Anne Seebach damit an, geflüchteten Frauen in einer Berliner Notunterkunft das Radfahren beizubringen. Diese Idee stieß auf großes Interesse: „Die Resonanz war wirklich enorm, da haben wir gemerkt, dass es ja ein Wespennest ist, in das wir gestochen haben“, berichtet Annette Krüger rückblickend.1 Die Rückmeldungen bestärkten die Initiatorinnen in ihrem Tun, woraufhin sie im Jahr 2016 den #BIKEYGEES e.V. gründeten und als gemeinnützigen Verein für Bildungs- und Kulturarbeit anmeldeten. Mittlerweile ist der Verein Mitglied des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und hat sich in Berlin zu einer Anlaufstelle für Frauen etabliert. Frauen und Mädchen mit und ohne Fluchterfahrung können an kostenlosen Radfahrtrainings teilnehmen, wobei neben den praktischen ‚Fahrskills‘ auch theoretischer Verkehrsunterricht in verschiedenen Sprachen angeboten wird. Zudem lernen die Frauen Selbsthilfe-Grundlagen, um ihr Fahrrad selbst instandzuhalten.2
„Einfach machen“: Die Strategie der #BIKEYGEES
Das Angebot ist bewusst niedrigschwellig: unter dem Motto „Einfach machen“ kommen Frauen und Mädchen unterschiedlicher Herkunft und Religion, unabhängig von Status und Fluchterfahrung, zusammen und helfen sich gegenseitig. Viele der über 500 ehemaligen Teilnehmerinnen fungieren als Multiplikatorinnen: Sie führen selbstständig Trainings durch und geben ihr Wissen direkt weiter.3 „Wir wollen einfach, dass die Frauen wachsen können, Fahrrad fahren können und sich unabhängig bewegen können“, sagt Annette Krüger.1 Durch die #BIKEYGEES wird den Teilnehmerinnen selbstständige Mobilität ermöglicht. Fahrradfahren verbindet und gibt Selbstvertrauen. Nach nur einem Übungstag kann bereits eine spürbare und sichtbare Veränderung der Lebensrealität der Frauen erreicht werden. Die Fähigkeit, sich selbstbestimmt auf dem Rad zu bewegen, verschafft ihnen ein unmittelbares Erfolgserlebnis.
Fahrradfahren ist mehr als Mobilität
Das Projekt #BIKEYGEES lässt sich dem Befähigungsansatz des Capability Approach zuordnen, der auf den Ökonomen Amartya Sen zurückgeht und von der Philosophin Martha Nussbaum weiterentwickelt wurde. Armut und Reichtum messen sie nicht nur an der Verteilung von Gütern, sondern an den allgemeinen und individuellen Verwirklichungschancen eines Menschen.5 Dieser gerechtigkeitstheoretische Ansatz verbindet das Streben nach individueller Entfaltung mit dem Streben nach gesellschaftlicher Veränderung. Dabei ist Mobilität ein wesentlicher Faktor, um soziale Interaktion zu ermöglichen. Bei der Bottom-Up-Initiative #BIKEYGEES befähigen die Trainerinnen die Frauen, ihre Mobilität eigenständig zu gestalten zu und eröffnen ihnen Möglichkeitsräume. Die Frauen können selbstverantwortlich über ihre Mobilität entscheiden. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, um strukturellen Benachteiligungen entgegenzuwirken.
„Jede Frau sollte Fahrrad fahren können. Und dürfen.“
Bisher hat der Verein 597 Frauen und Mädchen aufs Rad gebracht, 87 Trainings durchgeführt und 164 Fahrrad-Sets – ein gebrauchtes Fahrrad, ein Helm, ein Schloss – an Absolventinnen ausgehändigt. Zudem wurden den #BIKEYGEES zahlreiche Auszeichnungen verliehen, u.a. der Deutsche Fahrradpreis 2018.2 Mit Hilfe von Fördermitteln der Deutschen Fernsehlotterie werden seit Februar 2019 auch in den Berliner Randgebieten Marzahn/Hohenschönhausen Trainings durchgeführt und begleitende Integrationstouren zum Vernetzen angeboten. „Das Fahrrad ist ein gutes Vehikel, um Menschen aller Herkunft und politischer Grundeinstellung zusammen zu bringen und gegebenenfalls Ressentiments abzubauen.“1
Trotz dieser Erfolge ist die Finanzierung nach wie vor nicht gesichert: Der Fortbestand des Projekts ist abhängig von finanziellen Fördermitteln und gespendeten Fahrrädern, das Team von #BIKEYGEES engagiert sich größtenteils ehrenamtlich. Dabei leistet der Verein einen wichtigen Beitrag, um mobilitätsbezogener Exklusion und zugleich der zunehmenden Spaltung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Das interkulturelle Berliner Projekt zeigt: Es bedarf manchmal nur einfacher Mittel, um den Mobilitätsalltag von Menschen nachhaltig zu verändern. Denn, um es mit den Worten der #BIKEYGEES zu sagen: „Jede Frau auf der Welt sollte Fahrrad fahren können. Und dürfen.“1
Die kostenlosen Fahrtrainings finden in Berlin Kreuzberg und in Hohenschönhausen/Marzahn statt. Aktuelle Termine und Aktionen unter: http://bikeygees.org/de/
Studentische Hilfskraft am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin, Mitarbeiterin im Projekt MobileInclusion.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung, Öffentlichkeitsarbeit.
- Unveröffentlichte Interviewpassage mit Annette Krüger erhoben von Stephan Daubitz im Rahmen des Forschungsprojekts „MobileInclusion“ ↵
- #BIKEYGEES e.V. (Hg.) (o.J.): About Bikeygees e.V. Berlin. Online verfügbar unter: http://bikeygees.org/de/ ↵
- #BIKEYGEES e.V. (Hg.) (2019): Bikeygees e.V. Berlin. Radfahrtraining für geflüchtete Frauen. Online verfügbar unter: http://bikeygees.org/wp-content/uploads/2019/01/2019-JAN-BIKEYGEES-min.pdf ↵
- Unveröffentlichte Interviewpassage mit Annette Krüger erhoben von Stephan Daubitz im Rahmen des Forschungsprojekts „MobileInclusion“ ↵
- Comim, Flavio; Qizilbash, Mozaffar; Alkire, Sabina (Hg.) (2008): The Capability Approach. Concepts, Measures and Applications. Cambridge: Cambridge University Press. Online verfügbar unter https://doi.org/10.1017/CBO9780511492587 ↵
- #BIKEYGEES e.V. (Hg.) (o.J.): About Bikeygees e.V. Berlin. Online verfügbar unter: http://bikeygees.org/de/ ↵
- Unveröffentlichte Interviewpassage mit Annette Krüger erhoben von Stephan Daubitz im Rahmen des Forschungsprojekts „MobileInclusion“ ↵
- Unveröffentlichte Interviewpassage mit Annette Krüger erhoben von Stephan Daubitz im Rahmen des Forschungsprojekts „MobileInclusion“ ↵