Auto – ein (un)nötiger Luxus?!
Autofreie Städte, SUVs und kostenloser Nahverkehr – die Diskussion um das Auto und unsere Abhängigkeit davon spitzt sich in den Medien und unter Aktivist_innen zu. Das Auto ist dabei nicht nur reines Fortbewegungsmittel. Vielmehr zeigen die vorgebrachten Argumente auf beiden Seiten die Vielschichtigkeit der Grundsatzdebatte: Es geht um Freude und Emotionen, aber auch um soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Wohnort und nicht zuletzt Identität. Die Frage, ob und wie Mobilität ohne Auto funktionieren kann, muss daher immer im Zusammenhang von sozialen, politischen und Umweltthemen betrachtet werden.
Im Rahmen unserer 40 Interviews und Mobilitätstagebücher für MobileInclusion können wir einen Einblick in die Lebenswelt und Mobilitätswahrnehmung von Menschen gewinnen, die (sehr) wenig Geld zur Verfügung haben (siehe Forschungsplan). 36 der 40 der von uns befragten SGB II-Empfänger_innen verfügen über kein Auto im Haushalt. Dies entspricht einem Anteil von 90 %, der sich zum einen durch die Auswahl der Untersuchungsgebiete Berlin und Hamburg erklären lässt. In Städten haben generell weniger Menschen ein Auto zur Verfügung. Zum Vergleich: Während in der gesamten Bundesrepublik bei 78 % der Personen das Auto dominiert, bewegen sich 51 % der Berliner_innen und 43 % der Hamburger_innen vorwiegend mit dem Umweltverbund – also mit dem ÖPNV, mit dem Rad und zu Fuß 1.
Der urbane Fokus kann aber nur einen Teil erklären. Durch die hohe Differenz zwischen Städtedurchschnitt und unseren Ergebnissen müssen wir von einem weiteren Grund für den fehlenden Autobesitz ausgehen: Obgleich sich durch die geringe Anzahl keine allgemeinen Schlussfolgerungen auf „Hartz IV“-Empfänger ziehen lassen, bestätigt unser Befund die Zahlen anderer Studien: Arme Menschen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, haben seltener Zugriff auf ein (eigenes) Auto 2. Oft spielen dabei finanzielle Gründe eine Rolle.
Wer kommt ohne Auto nicht ans Ziel?
Im Rahmen von MobileInclusion versuchen wir herauszufinden, welche Einschränkungen Menschen in Armut in ihrer Mobilität erfahren müssen. Angesichts der „Auto-Benachteiligung“ fragen wir uns, inwieweit sich diese Determinante auf die sogenannten Möglichkeitsräume der „Hartz IV“-Empfänger_innen auswirkt: Welche Ziele des täglichen Lebens sind ohne Auto nicht erreichbar? Wird diese objektive Erreichbarkeit durch persönliche Aspekte, wie zum Beispiel Wahrnehmung, aber auch körperliche Einschränkungen verändert?
In unserer räumlichen Analyse messen wir die Entfernung zum Beispiel zum nächsten Hausarzt mit dem ÖPNV oder zu Fuß und mit dem Fahrrad (siehe Forschungsplan). Mit der Hilfe von Karten können wir so Quartiere ausmachen, von denen aus die nächste Praxis nur schlecht erreichbar ist. Um herauszufinden, ob Menschen in Armut schlechteren Zugang zu ihren Zielen haben, korrelieren wir die Entfernung und das Verkehrsmittelangebot mit der Armutsquote der einzelnen Wohngebiete. Diese Untersuchungen führen wir für 39 weitere Kategorien, wie dem nächsten Blumenladen oder dem Jobcenter, und weitere Formen des Raumwiderstandes, zum Beispiel die Reisezeit und die Reisekosten, durch.
Zu den Hauptverkehrszeiten konnten wir in den städtischen Räumen in Hamburg und Berlin keine maßgebliche Benachteiligung oder gar Versorgungslücken von Menschen in Armut feststellen. Von den meisten Wohnorten aus sind die untersuchten Ziele gut erreichbar. Dennoch: Vor allem in den Außenbezirken und in den ländlichen Bereichen haben es Menschen, die auf den Umweltverbund angewiesen sind, schwer 3. Entscheidend für die Erreichbarkeit von Zielen ist daher in hohem Maße die Wohnortwahl. Sie beeinflusst die Anbindung an den ÖPNV, vor allem auch durch Schienenverkehr und die Erreichbarkeit von alltäglichen Orten. Ein weiterer Aspekt ist die Bedienung der Strecken zu Nebenverkehrszeiten oder in der Betriebspause des Schienenverkehrs. Dieser Aspekt ist vor allem für Personen relevant, die im Schicht- oder Nachtdienst arbeiten.
Hinzu kommt, dass die theoretische Erreichbarkeit durch persönliche Barrieren der Betroffenen beeinflusst und eingeschränkt. Dies geht aus unseren Qualitativen Interviews mit Personen hervor, die „Hartz IV“ beziehen.
Im Gegensatz zu den finanziellen Barrieren, die im Kontext von Auto und Führerschein genannt werden, ist die persönliche Wahrnehmung der Betroffenen oft nicht direkt durch Armut erklärbar. Der Zusammenhang von „Hartz IV“, Mobilität und motorisiertem Individualverkehr wird komplexer, je näher wir auf die individuellen Biografien schauen. In den Interviews berichten die Proband_innen häufig von Problemen, die sie in ihrer täglichen Mobilität einschränken: Das reicht von Knieproblemen bis hin zu (sozialer) Angst, die U-Bahn zu benutzen. Diese Erzählungen werden ganz konkret ergänzt durch Unsicherheit, die sie vom Führerscheinerwerb oder vom Autofahren abhalten. Sie erklären diese Umstände psychisch, aber auch biografisch.
Menschen, die in Armut leben, sind doppelt betroffen
Zum einen können Menschen, die ein Auto besitzen, einige dieser persönlichen Nachteile ausgleichen. Auch mit einem kaputten Knie können sie Wege überbrücken, der überfüllte Bus lässt sich im Kleinwagen vermeiden, Unabhängigkeit wird als positiver Effekt genannt.
Zum anderen werden einige der genannten psychischen und körperlichen Gründe im engen Zusammenhang mit Armut vermutet. Es muss von „einer komplexen Verursachungskette ausgegangen werden, mit einer wechselseitigen Verstärkung von Arbeitslosigkeit und beeinträchtigter Gesundheit“ 4. Arme Personen ohne Auto müssen häufiger auf die individuellen Vorteilen eines Autos verzichten; Zugleich ist ihr Risiko für weitere psychische oder körperliche Einschränkungen höher.
Und jetzt: Wollen wir das Auto für Alle?
Angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit bringt das Auto große Probleme mit sich. Das Auto für alle darf im Zuge von Klimawandel und Flächengerechtigkeit nicht die Forderung sein. Vielmehr muss die Erreichbarkeit von Zielen des täglichen Bedarfs die Maxime der Planungsprozesse sein: Wie weit darf es maximal bis zum nächsten Hausarzt sein? In welcher Entfernung sollte das nächste Museum liegen?
Räumlich ist das vor allem für die Außenbezirke und ländliche Regionen entscheidend. Qualitativ spielen Informationen und zum Beispiel Zugänglichkeit von Haltestellen eine entscheidende Rolle. Ziele müssen dafür nicht nur räumlich erreichbar sein: Unsere Erhebungen zeigen, dass körperliche, geistige und finanzielle Barrieren ebenso schwer wiegen. Sie schränken einen eigentlich machbaren Weg so weiter ein. Aber auch der Preis des Nahverkehrs, insbesondere des Sozialtickets, entscheidet für Menschen, die aufgrund von „Hartz IV“ täglich abwägen müssen, über soziale Exklusion.
Um diese Ausgrenzung überwinden, ist ein grundlegendes und umfassendes Mobilitätsmanagement, das soziale sowie räumliche Faktoren berücksichtigt, vonnöten. Darüber hinaus ist es wichtig, Fragen der Mobilität nicht nur verkehrsplanerisch, sondern auch sozialpolitisch einzubetten. Dabei hilft es, verschiedene Personengruppen, ihre Nöte und Strategien zu kennen. Den Blick weg vom Auto hin zu vielfältigen Mobilitätsmitteln zu erweitern, sorgt für eine gerechtere und lebenswertere Stadt, in der Wege nicht für Autos, sondern für Menschen geplant werden 5.
Studentische Hilfkraft am Institut für Verkehrsplanung der TU Hamburg, Mitarbeiterin im Projekt MobileInclusion. Mag Wälder.
Arbeitsschwerpunkte: Geografische Analyse sozialer Ausgrenzung,
Öffentlichkeitsarbeit
- Nobis, Claudia und Kuhnimhof, Tobias (2018): Mobilität in Deutschland – MiD Ergebnisbericht. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/15). Bonn, Berlin. www.mobilitaet-in-deutschland.de ↵
- Aust, Andreas; Rock, Joachim; Schabram, Greta; Schneider, Ulrich; Stilling, Gwendolyn; Tiefensee, Anita (2018): Wer die Armen sind. Der Paritätische Armutsbericht 2018. DEUTSCHER PARITÄTISCHER WOHLFAHRTSVERBAND GESAMTVERBAND e. V. Berlin ↵
- Vgl. dazu auch Ahlmeyer, Florian; Wittowsky, Dirk (2018): Was brauchen wir in ländlichen Räumen? Erreichbarkeitsmodellierung als strategischer Ansatz der regionalen Standort- und Verkehrsplanung. In: Raumforschung und Raumordnung 76 (6), S. 531–550. DOI: 10.1007/s13147-018-0558-8. ↵
- Saß, Anke-Christine; Ziese, Thomas; Lampert, Thomas; Häfelinger, Michael (2005): Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Robert Koch-Institut. Berlin (Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes) ↵
- Mehr dazu z.B. https://www.zeit.de/mobilitaet/2019-09/staedteplanung-maenner-geschlechtergerechtigkeit-berlin-bruessel-barcelona, https://www.vzbv.de/dokument/mobil-bleiben-auch-ohne-auto ↵