Wenn die Existenz an einem Fahrrad hängt
Der Film „Fahrraddiebe“ zeigt, wie der Verlust des Fahrrads zu sozialer Ausgrenzung führen kann
In einem qualitativen Interview zum Thema Mobilität und Armut1 schilderte eine alleinerziehende Hartz IV-Empfängerin mir den Diebstahl ihres Fahrrads. Was die Sache für sie noch schlimmer machte: Das Fahrrad hatte sie sich von einer Freundin geliehen.
„Das war richtig doof. Da denkt man auch: Warum machen das Leute? Das waren wirklich Mühlen, das waren keine tollen Fahrräder. Und ich kam mir halt vor wie in diesem neorealistischen Film da, ‚Die Fahrraddiebe‘“.
Das Fahrrad: Ein Schlüssel zur Arbeit
Der Film, den die Mutter benennt, ist ein Werk des italienischen Regisseurs Vittorio de Sica aus dem Jahre 1948. Auch nach 70 Jahren ist er offenbar immer noch präsent. Er erzählt die Geschichte des arbeitslosen Antonio Ricci (gespielt vom Laiendarsteller Lamberto Maggiorani), der eine Stelle als Plakatankleber erhält. Grundvoraussetzung ist der Besitz eines Fahrrads, um die Arbeit zu bewältigen. Also löst Ricci sein verpfändetes Fahrrad wieder gegen Bettwäsche aus, damit er den Job annehmen kann. Das Glück währt jedoch nicht lange. Das Fahrrad wird ihm von einem jungen Mann unter Mithilfe von Komplizen gestohlen. Für Ricci eine Katastrophe, da seine Existenz gefährdet ist und er nun mit leeren Händen dasteht.
Fahrräder klauen ist ein Armutsdelikt
Ricci macht sich mit seinem kleinen Sohn Bruno auf die Suche nach dem verlorenen Rad. Sie können den Dieb zwar ausfindig machen, finden aber das Fahrrad nicht. Ricci muss feststellen, dass der Dieb in noch elenderen Verhältnissen lebt als er. Nach einer Recherche der „Tageszeitung“ scheint der Fahrraddiebstahl in Berlin auch heute noch ein Armutsdelikt zu sein2.
Ricci muss jedenfalls endgültig das Feld räumen, als Einwohner des Armenviertels ihn bedrohen. Erschöpft landet er mit seinem Sohn vor einem Fußballstadion, wo er mit ansehen muss, wie sich tausende von Besucher nach Abpfiff des Spieles auf ihre Fahrräder schwingen. An einer Hauswand sieht er ein Fahrrad an einer Hauswand lehnen.
Nun reift in Ricci der Gedanke, dieses Fahrrad zu stehlen, um seine Probleme zu lösen. In dieser Szene werden die Ausgeschlossenheit und die Verzweiflung besonders deutlich: Ricci steht in der Fülle von Fahrrädern und hat selbst keines. Er ist hin- und hergerissen. Schließlich entschließt er sich zum Diebstahl, wird jedoch von Passanten gestellt. Sein Sohn Bruno drängt sich mit entsetztem Gesicht in die Menge, die seinen Vater festhält und ihn zur Polizei bringen möchte. Der Besitzer des gestohlenen Fahrrads hat jedoch Mitleid und verzichtet auf eine Anzeige. Der Film endet damit, wie Ricci und Bruno zu Fuß in der Masse verschwinden. Bruno hält dabei seinen beschämten und verstörten Vater an der Hand.
Fahrrad geklaut: Auch nach 70 Jahren ein herber Einschnitt in den Alltag
Auch wenn der Film in der italienischen Nachkriegsgesellschaft spielt, präsentiert er universelle Grundmuster, die sich auch heute noch beobachten lassen. Mit dem Verlust des Fahrrads wird der Protagonist zu einem Getriebenen, der alles daransetzt, sein Rad wieder zu gewinnen. Dabei vergisst er seinen Sohn, der beinahe von einem Auto überfahren wird. Darüber hinaus behandelt er Bruno ungerecht und flüchtet sich in seiner Verzweiflung zu einer Wahrsagerin.
Der Diebstahl eines Fahrrads kann auch heute noch ähnliche emotionale Gefühle auslösen. Ähnlich wie Ricci muss man sich nach einem Diebstahl des Fahrrads damit abfinden, dass man dieses nicht mehr wiedersieht. Und ähnlich wie im Film kann man sich kaum Hoffnung machen, dass die Polizei das gestohlene Rad wiederbeschafft.
Für das Jahr 2016 wurden 332.000 Fahrraddiebstähle in Deutschland erfasst. Inzwischen machen selbst ernannte „Bike-Hunter“ sich ähnlich wie Ricci und Bruno auf die Suche nach gestohlenen Rädern. Ob das hilft? Klar ist, dass der Verlust gerade für Hartz IV-Bezieher_innen ein harter Schlag ist. Denn der Ersatz bedeutet Kosten, für die zumeist kein Geld da ist. Und was noch schwerer wiegt: Mit dem Fahrrad wird ihnen eines der wichtigsten Verkehrsmittel genommen, das ihnen im Alltag zur Verfügung steht.
Der Film „Fahrraddiebe“ ist inzwischen in einer synchronisierten Fassung auf DVD erschienen. Jedoch ist er wohl zu erschwinglichen Preisen nicht mehr zu haben. Es lohnt sich aber, in der Stadtbibliothek vorbeizuschauen und den Film auszuleihen.
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für integrierte Verkehrsplanung an der TU Berlin. Bearbeiter des Projekts MobileInclusion. Leidenschaftlicher Wanderer.
Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Analysen sozialer Ausgrenzung. Entwicklung von Strategien und Maßnahmen.
- Unveröffentlichte Interviewpassage erhoben von Stephan Daubitz im Rahmen eines Promotionsprojekts ↵
- Kersten Augustin, 07.05.2016: Fang den Dieb ↵