Gerechtigkeitslücken in der Mobilitätspolitik

Unser Forschungsprojekt MobileInclusion beschäftigt sich mit den vielseitigen Hindernissen der Mobilität von „Hartz IV“-Empfänger_innen, die eine uneingeschränkte soziale Teilhabe erschweren oder behindern. Die Forschung ist dabei keinesfalls wertneutral, sondern hat zum Ziel, das menschliche Wohlbefinden zu verbessern. Wir betrachten Menschen nicht als „beplanbare“ Objekte der Verkehrspolitik, sondern verstehen sie aufgrund ihrer Fähigkeiten, Potenziale und individuellen Besonderheiten als Persönlichkeiten, die in politische und planerische Prozesse einzubinden sind. Die Lebensqualität des einzelnen Menschen soll in den Mittelpunkt gestellt werden.

Gutes Leben in der Stadt: Sozial gerecht, umweltgerecht und ökonomisch sicher

Wenn wir über soziale Exklusion mit der Fokussierung auf Mobilität sprechen, ist eine Beschäftigung mit verschiedenen Gerechtigkeitskonzeptionen unumgänglich. Klar ist auch, dass mit der Festlegung einer normativen Basis auch immer strukturelle Machtverhältnisse in Frage gestellt werden, die nicht nur in einer ungerechten Verteilung von Einkommen und Vermögen begründet sind. Beispielsweise lässt sich auch ein „racial gap“, also eine auf Ethnie basierenden Ungerechtigkeit konstatieren. Dies schildert die Stadt-Anthropologin Adonia Lugo in ihrem kürzlich erschienen Band Bicycle / Race: Transportation, Culture, & Resistance am Beispiel der US-Amerikanischen Fahrradkultur1.
Auch Verkehrsplanung und -politik müssen die verschiedenen Dimensionen, die Mobilität einschränken, berücksichtigen. Der Ausschluss bestimmter Gruppen vom sozialen Leben durch Einschränkungen in den tatsächlichen und möglichen Ortsveränderungen, während andere soziale Gruppen diese voll ausschöpfen bzw. auf Kosten von Umweltressourcen mobil sind, liefert einen wichtigen Begründungszusammenhang für verkehrsplanerische Maßnahmen.

Doppelte Ungerechtigkeit: Manche Menschen haben weniger Zugang zu Mobilität, aber leiden besonders unter der Mobilität der Anderen

Eine neue Veröffentlichung macht auf die Ungerechtigkeiten im deutschen Verkehrssystem aufmerksam und gibt sich mit einer bloßen Analyse nicht zufrieden. Stefan Rammler und Oliver Schwedes 2 stellen in ihrer von der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebenen Studie Mobilität für alle! Gedanken zur Gerechtigkeitslücke in der Mobilitätspolitik eine doppelte Gerechtigkeitslücke des Verkehrssystems fest.
So benennen die Autoren als Gerechtigkeitslücken zum einen die ungerechten Nutzungschancen ungleicher Zugänge zu Verkehrssystemen, und zum anderen die ungleiche soziale Betroffenheit durch die externen Effekte (Luftschadstoffe, Lärm, Verkehrssicherheit) von Verkehrsprozessen. In der Studie werben sie für eine kommunale Verkehrswendepolitik. Als erste konkrete realpolitische Ansätze auf dem Weg dorthin nennen Rammler und Schwedes das Berliner Mobilitätsgesetz und das 365 Euro-Jahresticket für den Nahverkehr nach Wiener Vorbild. Mit dem Berliner Mobilitätsgesetz wurde zum ersten Mal ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der die einseitige Bevorzugung des Automobils durchbricht und sich auf eine Korrektur ungerechter Folgeerscheinungen des Verkehrs festlegt.
Bei der Vorstellung der Studie in der Friedrich-Ebert-Stiftung forderte Oliver Schwedes eindringlich ein, dass man mit den Menschen, die sozial ausgegrenzt sind, reden muss. So werden Menschen mit Grundsicherung oder „Hartz IV“ Bezug zu ihren Mobilitätsbedürfnissen in der Regel nicht befragt oder gar nicht erst informiert. Dann zeigt sich z. B., dass eine Ausweitung von Bikesharing- Angeboten keine Alternative für Einkommensarme darstellt, da diese zu teuer und aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten (internetfähiges Smartphone etc.) nicht nutzbar sind.

Wer Mobilität plant, muss Teilhabe mitdenken

Die soziale Dimension von Mobilitätsprojekten ist also immer unter dem Aspekt der Teilhabe mitzudenken. Das Angebot der kostenlos auszuleihenden Lastenräder im Falkenhagener Feld in Berlin-Spandau, um nur ein Beispiel zu nennen, muss über die „cyclist community“ hinaus bekanntgemacht und idealerweise mit den Menschen, die in der kommunalen Infrastruktur arbeiten bzw. diese nutzen, zusammen geplant und auf den Weg gebracht werden.

Vor allem die Sozialarbeiter_innen vor Ort sind für solche Ansätze sehr aufgeschlossen. Den Quartiersmanager_innen, Sozialarbeiter_innen muss der Zusammenhang von Mobilität und sozialer Teilhabe nicht mehr groß erklärt werden. Dies ist schon eine erste wichtige Erkenntnis, die wir bei unseren Begehungen in den Untersuchungsgebieten unseres Projekts MobileInclusion gewonnen haben. Aber dies ist eine Geschichte für einen weiteren Blogbeitrag.

  1. Lugo, A. E. (2018). BICYCLE/RACE: Transportation, Culture, & Resistance. Portland, Oregon: Microcosm Publishing. Umfassende Rezension bei Citylab, auf Englisch
  2. Transparenzhinweis: Prof. Dr. Oliver Schwedes ist einer der Projektleiter von MobileInclusion